pro: Von 24 Millionen Protestanten besuchen nur noch 900.000 den Gottesdienst. Erreicht Kirche außer an Weihnachten noch Menschen, die außerhalb stehen?
Michael Herbst: Der demografische Faktor verläuft zu Ungunsten der Kirche. Wir haben eine höhere Überalterung bei den Kirchenmitgliedern als in der allgemeinen Bevölkerung. Im Osten schrumpfen Gemeinden durch Wegzug. Gegen diese Dinge kann die Kirche nichts tun. Aber offenbar sind wir mit unseren bisherigen Angeboten auch nicht in der Lage, die Mehrheit der eigenen Mitglieder, geschweige denn der Konfessionslosen, zu erreichen. Da müssen wir neue Wege gehen, sonst können wir irgendwann die Lichter ausmachen.
Brauchen Kirchengemeinden neue Angebote oder andere Strukturen?
Neue Strukturen werden das Problem nicht lösen. Die Kernfrage ist, ob Kirchenleitende und Pfarrer die aktuelle Not als geistliche Not begreifen. Theologisch erklärt: Es liegt im Wesen Gottes, auf seine Schöpfung und seine Menschen zuzugehen. Deshalb kann auch Kirche nichts anderes tun, als auf Menschen zuzugehen. Es muss uns wieder dringlich werden, Menschen das Evangelium zu bezeugen.
Evangelisation ist in der evangelischen Kirche seit Jahrzehnten eher ein Tabuthema.
Es ist ein gebrandmarkter Begriff, der lange mit schlechten Erfahrungen bis hin zu Kreuzzügen und Inquistion in Verbindung gebracht wurde. Wir brauchen eine geistliche Erneuerung und Umkehr. Diese Erkenntnis brauchen wir in Synoden, Mitarbeiterkreisen, Kirchenräten, Pfarrkonventen. Aber: Mission darf kein Selbstzweck sein zur Rettung der Statistik. Wenn sie nicht aus der Liebe zu Gott und den Menschen entsteht, werden die Menschen das merken. Wenn diese Haltung im Inneren klar ist, können wir überlegen, wie wir Evangelisation in unserem Umfeld umsetzen.
In England gibt es mehr Atheisten als in Deutschland. 40 Prozent der Bevölkerung haben im ganzen Leben keinen relevanten Kontakt mit Kirche, 20 Prozent haben sich bewusst von Kirche abgewandt. In dieser Situation erreichen die "Fresh Expressions"-Bewegungen viele Menschen. Wie geht das?
Einerseits haben sich immer wieder herausragende Persönlichkeiten für Mission stark gemacht. Erzbischof Temple hat bereits 1945 auf die missionarische Herausforderung hingewiesen. Dann gab es eine Reihe geistlicher Erweckungsbewegungen, die teils charismatisch, teilweise geprägt waren durch die Spiritualität neuer Kommunitäten. Einen Vorteil gegenüber Deutschland sehe ich darin, dass die Anglikanische Kirche bischöflich strukturiert ist. Unter dem Dach eines Bischofsbezirks sind neben den Ortsgemeinden zahlreiche, nicht geografisch gebundene Gemeindeformen entstanden.
Wie sind "Fresh Expressions" organisiert?
Es sind Projekte, die häufig nicht in kirchlichen Gebäuden stattfinden, sondern in weltlichen Räumen. Meist gibt es keine Hauptamtlichen, sondern engagierte Ehrenamtliche. Alles ist aber "kirchlich lizensiert", es gibt tatsächlich eine Lizenz vom Bischof. Sie haben alle eine eigene "Mission", also Menschen, denen sie im Geist des Evangeliums dienen wollen.
Zum Beispiel?
Es gibt Projekte, die sich nur an bestimmte Gruppen oder Milieus richten: Jugendliche, Arbeitslose, Familien, Banker. Da gibt es Angebote für Skateboarder oder BMX-Fahrer, für Künstler und Kreative, für Surfer oder auch für Asiaten. Das sind nur ein paar Beispiele. Aus vielen Projekten sind eigene Gemeinden speziell für diese Gruppen entstanden. In den letzten 20 Jahren sind in der anglikanischen und methodistischen Kirche 2.000 solcher "Fresh Expressions" entstanden.
Und die Ideen kommen von der Basis?
Genau. Andersherum ginge es wohl auch nicht. Junge risikobereite Bewegungen brauchen unbedingt die Unterstützung von oben. Ohne diese würden es viele Initiativen nicht lange schaffen, zumindest in der Landeskirche. Wenn von der Basis der Gemeinde eine Idee kommt, wäre es gut, wenn die Leitungsebene das unterstützen würde, indem sie sagt: "Wir geben euch ein befristetes Fenster für diesen Versuch, macht mal." So funktioniert das in England.
Ist das nicht auch eine Kultur- und Mentalitätsfrage?
Vermutlich: In England ist man risikofreudiger. Bei uns fehlt oft der Blick nach außen. Der Versuch, alte Traditionen irgendwie über die Zeit zu retten, blockiert uns im Moment ungeheuer. Ich beneide die Anglikaner um die Frechheit und den Mut, zu sagen, wir versuchen das jetzt mal. In Deutschland wissen wir seit den 1980er Jahren um die Situation in den Kirchen, trotzdem fehlt häufig der Mut dazu, neue Projekte anzustoßen.
Da gibt es große Ängste, dass die Gemeinde gespalten wird…
Aber die Gemeinde ist doch längst gespalten. In den Kirchen treffen sich Menschen der bürgerlichen Mitte mit ähnlichem Alter und Interessen. Die anderen bleiben außen vor. Wenn man mehr Menschen eine Chance gibt, auf ihre Weise Gottesdienst zu feiern, tut man etwas gegen die Spaltung. Dann kann man überlegen, wo man die Gesamtgemeinde zusammenführen kann. Vielleicht haben Gemeinden Angst, Dinge, die über Jahrzehnte dazugehören, über Bord zu werfen.. Die traditionellen Angebote können ja weiterlaufen. Neues kann daneben beginnen. Ein junger Pastor sagte mal zu seiner Gemeinde: "Ich unterstütze den traditionellen Gottesdienst um 10 Uhr, bitte euch aber um Gebetsunterstützung beim Aufbau eines neuen Angebotes für Familien." Die Älteren sagten damals: "Wir gehen da nicht hin, das ist uns zu laut, zu unruhig, aber wir beten dafür. Und wir freuen uns, dass Leute kommen, die früher nie einen Fuß in die Kirche gesetzt hätten." Die Gemeinde ist richtig aufgeblüht.
Gibt es Ansätze, Konzepte aus England auch in Deutschland umzusetzen?
Bei einem Runden Tisch im Februar 2012 haben sich Vertreter verschiedener Kirchen und freier Werke zu einer Kooperation in Sachen "Fresh Expressions" verpflichtet. Anfang 2013 wird es mehrere Konferenzen zu dem Thema geben. Zum Beispiel "Neues wagen" vom Gnadauer Gemeinschaftsverband oder "Kirche hochzwei", eine Tagung, die die Evangelisch-Lutherische Kirche Hannover und das Bistum Hildesheim organisieren.
Muss sich die Pfarrerausbildung ändern?
Ja, auf jeden Fall. Mission ist heute ein Randthema der Theologie. Sie muss wieder in die Mitte rücken, denn in der missionarischen Situation liegt die Herausforderung: Da muss man den Glauben gegenüber anderen verteidigen, darstellen, was man glaubt und warum. Zweitens sollten junge Theologen unsere Kultur lesen lernen. Sie müssen verstehen, wie die Menschen in unterschiedlichen Milieus ticken und was sie beschäftigt. Dann können sie die Bibel für bestimmte Kontexte auslegen. Drittens haben wir seit 200 Jahren eine Spaltung zwischen Frömmigkeit und Wissenschaft. Wir gewöhnen den Theologiestudenten ab, Glauben und Denken beieinander zu halten. Dabei sollten wir ihnen helfen, das akademische Denken zu verknüpfen mit eigener Praxis von Gebet, Bibellesen und Gemeinschaft. Sonst können sie die nötige geistliche Haltung für Gemeindeleitung nicht entwickeln.
Und was ist mit den Ehrenamtlichen?
Um Ehrenamtliche zu schulen, gibt es in England Weiterbildungen, beispielsweise "Mission-shaped Ministry". Das ist ein Jahreskurs, in dem ehrenamtliche Mitarbeiter der "Fresh Expressions" geschult werden. Der Kurs findet an 60 Orten statt und ist so organisiert, dass auch Menschen mit engem Zeitplan daran teilnehmen können. In Deutschland entsteht nach diesem Modell unter der Federführung des Evangelischen Jugendwerkes Württemberg das "Basistraining Gemeinde-Innovation" für Ehrenamtliche.
Vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Ellen Nieswiodek-Martin
Michael Herbst, geb. 1955, ist Professor für Praktische Theologie und Gründungs-Direktor des Instituts zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Vorher war er Pastor in Münster und Krankenhausseelsorger.