"Kindern muss man vor allem eines beibringen: Grenzen. Erst sie gewährleisten, über den Schutz nach außen, eine intakte Persönlichkeit. Diese Erziehung wird von einer immer indiskreter werdenden Öffentlichkeit rückgängig gemacht", schreibt Reents. Erwachsene gäben ihren Mitteilungs- und Zerstreuungsbedürfnissen sowie ihrem Zeigestolz ohne Aufschub und ohne Rücksicht auf andere Raum: Sie verhielten sich infantil.
Mangel an Anstand
Vor allem die Digitalisierung der Lebenswelt befördere die "Infantilisierung": Geräte wie Smartphones ermöglichen ständige, grenzenlose Kommunikation: "Kindlicher Mitteilungsdrang regiert, wo man sich einst gelassen sagte, bestimmte Dinge erfahre der andere noch früh genug." Auch die Möglichkeit, jederzeit Waren zu bestellen, beförderten das kindliche Lebensgefühl des ständigen Haben-Wollens: das Erwachsensein werde zur "Kindheit mit Kreditkarte" pervertiert.
Hinzu komme, dass die Möglichkeiten ständiger Kommunikation "uns zu sprunghaften und oft auch unhöflichen Menschen" machten. Viele hielten es nicht mehr für nötig, sich für die Dauer eines Anrufs zurückzuziehen: "Dass jede Verrichtung ihre Zeit und ihren Ort hat, scheint nicht mehr zu gelten". Auch Pünktlichkeit werde immer unwichtiger, "man kann ja laufend am Handy durchgeben, wie spät man nun genau kommt".
Alles zu allen Zeiten
Besonders soziale Netzwerke betrieben eine "Durchinfantilisierung", als deren Kennzeichen Reents "rumpfhafte Mitteilungen" und die "recht eigentlich kindlichen" "Like"-Buttons ausmacht. Diese Kommunikationsweisen griffen auch auf andere Bereiche über: "Der politische Journalismus macht sich die schwindende Fähigkeit zur Differenzierung zu eigen, indem er uns mit immer neueren Umfragedaten zur ohnehin überschätzten Beliebtheit von Politikern beliefert".
Eine der Ursachen dieser Tendenz sei die Weigerung der Leute, einzusehen, dass "die Zeit für gewisse Dinge auch mal vorbei ist". Sie wollten auch im fortgeschrittenen Alter jung sein. Die Unterhaltungs- und Werbeindustrie nutze diese Haltung und befördere sie zugleich. Werbung spreche "vom Kind bis zum Rentner breite Altersschichten an". Schon die Einteilung einer werberelevanten Gruppe in ein Alter von 14 bis 49 Jahren spreche Bände: "Was für eine heterogene Gruppe hier über den Kamm einheitlicher Bedürfnisse geschoren wird!"
Eingeschränkte Lebensqualität
Diese Phänomene sind für Reents nicht "schlimm", aber "alarmierend". In seinem Urteil sinkt durch die beschriebenen Tendenzen die Lebensqualität: Durch ständige Erreichbarkeit gebe es weniger Raum für Überraschungen oder Vorfreude. Sobald einem etwas nicht sofort einfalle, würden Suchmaschinen im Internet befragt: so werde "jedes unvorhergesehene Erfolgserlebnis, das Widerständen abgetrotzt ist, kassiert".
Vor allem sieht der Journalist die Fähigkeit zur Konzentration schwinden. Die Tendenz zum Kindischen, gefördert durch Medien und Wirtschaft, werde so weitergehen, "bis wir uns eines Tages auf gar nichts mehr konzentrieren können, weil wir unsere Hände dauernd nach allen Seiten dieser bunten, dummen Welt ausstrecken, wie Kinder, die überreizt sind und keinen Schlaf mehr finden".
Edo Reents ist seit 2001 Feuilleton-Redakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", bis 2006 mit dem Schwerpunkt Popmusik. Zuvor arbeitete der promovierte Germanist zwei Jahre für die "Süddeutsche Zeitung". Er veröffentlichte eine Biographie über den Musiker Neil Young und ein Hörbuch mit Portraits verschiedener Pop-Musiker. (pro)