Im Westen könnte man denken, die Mädchenband wolle offenbar ein wenig pubertären Rabbatz machen und Popruhm erlangen. In Wirklichkeit handelt es sich um äußerst mutige Frauen, die kurz vor der Präsidentenwahl auf ihre Art Kritik am diktatorischen Regime Vladimir Putins äußerten. Viele bezahlten derartige Regimekritik bereits mit dem Leben.
Es sind erstaunlicherweise vor allem Frauen, die gegen das System aufbegehren. Internationale Bekanntheit erlangte die Journalistin Anna Politkowskaja, die sich für die Freiheit in Russland einsetzte und dafür ermordet wurde. Ihre Kollegin Larissa Arap wurde in eine psychiatrische Klinik eingeliefert. Als die Reporterin Anastassija Baburowa 2009 auf offener Straße ermordet wurde, kritisierte die Organisation "Reporter ohne Grenzen" ein "Klima der Straflosigkeit" in Russland. Die regimekritische Journalistin Natalja Estemirowa wurde am 15. Juli 2009 vor ihrem Wohnhaus entführt und am Nachmittag desselben Tages in einem Waldstreifen mit mehreren Kugeln im Körper tot aufgefunden. Auch in der Ukraine sind es auffällig viele Frauen, die den Mut haben, aufzubegehren gegen gesellschaftliche oder politische Schieflagen. Man muss gar nicht Julia Timoschenko bemühen; ich denke, auch die "Femen-Aktivistinnen", die regelmäßig völlig entblößt in der Öffentlichkeit auftreten, sind ein Zeichen dafür, dass sich gerade unter Frauen Frust über ein unfreies Leben angestaut hat.
Der Auftritt von "Pussy Riot" war auch eine Kritik an der Kirche Russlands. Die duckt sich feige weg, wenn es eigentlich Zeit wäre, gegen die zunehmenden Machtansprüche Putins die Stimme zu erheben. Dem Erzpriester der Russisch-Orthodoxen Kirche und Leiter der Abteilung für Beziehungen zwischen Kirche und Gesellschaft, Wsewolod Tschaplin, ist es hauptsächlich wichtig, dass in seiner Kirche Ruhe herrscht. "Ein christliches Land sollte entschieden reagieren, wenn einer seiner heiligen Orte attackiert wird", fiel ihm lediglich zum Thema "Pussy Riot" ein. Die Evangelische Kirche in Deutschland zeigte sich am Donnerstag entsetzt über eine derartige Blauäugigkeit: "Die Haltung der Russisch-Orthodoxen Kirche zu diesem Prozess ist mir völlig unverständlich", sagte der Auslandsbischof der EKD, Martin Schindehütte. Die "Verletzung religiöser Gefühle" seien durchaus "ernsthafte Störungen des gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenlebens", deshalb solle man das "Punkgebet" in Moskau doch bitteschön nicht einfach übergehen.
Zum Glück haben die "Pussy Riots" viele prominente Unterstützer in der ganzen Welt bekommen. Popstar Madonna solidarisiert sich auf ihren Konzerten mit den jungen Frauen, die Sängerin Peaches veröffentlichte ein Video für die Punkrockerinnen und initiierte eine Petition zu deren Freilassung, die bereits 95.000 Menschen unterzeichnet haben. Musiker wie Pete Townshend von "The Who" oder Neil Tennant von den "Pet Shop Boys" fordern in der "Times" die Freilassung der Russinnen. Auch deutsche Musiker wie Udo Jürgens, Peter Maffay, Udo Lindenberg oder Nina Hagen tun Ähnliches. In vielen europäischen Städten demonstrieren Menschen in bunten Masken für die Freilassung der Frauenband. Die deutsche Polizei machte da sogar eine Ausnahme in Sachen Vermummungsverbot. Dass die Medien ein Segen sein können, wird an dieser Geschichte deutlich. Die Frauenband reagierte auf die internationalen Reaktionen: "Wir müssen noch stärker werden, vielleicht auch noch dreister." (pro)