Deutschland entscheidet selbst über Sterbehilfe

Sollte es in Deutschland ein Recht auf Sterbehilfe geben? Um diese Frage ging es bei der Beschwerde von Ulrich Koch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Deutsche Behörden hatten seiner querschnittsgelähmten Frau ein Medikament zur Selbsttötung verwehrt, darin sah Koch einen Verstoß gegen ihr Recht auf menschenwürdiges Sterben. Doch der Gerichtshof beschränkte sein Urteil auf Verfahrensfragen.
Von PRO

Die Frau des Klägers, Bettina Koch, war 2002 nach einem Sturz vom Hals abwärts gelähmt, musste künstlich beatmet und teilweise ernährt werden. Beim Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte beantragte sie zwei Jahre später die Erlaubnis für eine tödliche Dosis Schlafmittel, um sich selbst das Leben zu nehmen. Das lehnte das Amt ab. Daraufhin reiste die Familie in die Schweiz, wo sich Frau Koch mit Hilfe des Vereins "Dignitas" selbst tötete. Über eine spezielle Vorrichtung nahm sie das Getränk dafür ohne fremde Hilfe zu sich.

Die Klagen des Witwers Koch gegen die Entscheidung des Bundesamtes wurden in Deutschland von verschiedenen Instanzen abgewiesen. Vor dem EGMR in Straßburg reichte Koch 2008 Beschwerde ein: Die Rechte seiner Frau, insbesondere das auf menschenwürdiges Sterben, seien nach der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt worden, ebenso sein eigenes Recht auf die Achtung des Familien- und Privatlebens. Zudem hätten die deutschen Gerichte seine Klage gegen das Bundesamt anhören müssen.

Der EGMR hat am heutigen Donnerstag festgestellt, dass Ulrich Koch als Ehemann der Querschnittsgelähmten tatsächlich in seinen Rechten verletzt wurde, indem das Bundesamt das Medikament verweigerte und die deutschen Gerichte seine Klage nicht ausreichend prüften. Der Gerichtshof erkannte an, dass Koch "ein starkes und fortbestehendes Interesse daran hatte, seine ursprünglich vorgebrachte Beschwerde in der Sache gerichtlich prüfen zu lassen". Jedoch könne er nicht im Namen seiner verstorbenen Frau ihre Rechte einklagen, da diese nicht übertragbar seien. Ob die Behörden das tödliche Mittel hätten gewähren müssen, dazu nahmen die Richter in Straßburg keine Stellung. "Da die sachliche Prüfung der Beschwerde primär Pflicht der deutschen Behörden war, entschied der Gerichtshof, sich auf die Prüfung des Falls unter verfahrensrechtlichen Gesichtspunkten zu beschränken", teilt das Gericht mit. Deutschland muss Koch nun eine Entschädigung zahlen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Beide Seiten können innerhalb von drei Monaten beantragen, dass die Fragen noch vor der Großen Kammer des EGMR verhandelt werden.

Kein Grundrecht auf Sterbehilfe

Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) sieht nach der Entscheidung keine Notwendigkeit, in Deutschland die Sterbehilfe gesetzlich zu regeln. Das Straßburger Gericht habe sich in der Sache nicht geäußert und damit dem nationalen Gesetzgeber keine Vorgaben gemacht. "Es gibt also kein Urteil, das ein Recht auf Sterbehilfe oder andere Aussagen zur Sterbehilfe beinhaltet", teilte sie mit. Wie eine Sprecherin des Justizministeriums gegenüber pro erklärte, hätten die europäischen Staaten durch das Urteil Spielraum, die Frage der Sterbehilfe selbst zu regeln. Ein Grundrecht auf Sterbehilfe gebe es nicht. In Zukunft müssten aber die Rechte Betroffener, mit denen auch Koch argumentierte, stärker berücksichtigt werden.

Der bayrische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm lobte die derzeitige Gesetzeslage in Deutschland, weil sie grundsätzlich vom gleichen Wert und der Würde aller Menschen ausgehe, aber auch Spielraum für Gewissensentscheidungen lasse. "Die schweren Entscheidungen am Lebensende werden von Ärzten, Seelsorgern und Angehörigen sehr verantwortungsvoll getroffen. Ich glaube, dass dieser verantwortliche Lebensschutz genau der richtige Weg ist", sagte er gegenüber pro.

"Ich hatte befürchtet, dass das Urteil  wesentlich offensiver und liberaler ausfällt", sagte Stephan Holthaus, Leiter des "Instituts für Ethik und Werte", im Gespräch mit pro. "Der Gerichtshof bestätigte, dass der deutsche Gesetzgeber über Verbot oder Freigabe der aktiven Sterbehilfe zu entscheiden habe, nicht Europa. Das ist gut so".

Die Entscheidung des Gerichts, dass Koch mit der Verweigerung des Medikaments für seine Frau auch in seinen Rechten betroffen war, führt den Generalsekretär der Evangelischen Allianz, Hartmut Steeb, zu der Überlegung, ob das auch im Hinblick auf den Schutz ungeborenen Lebens geltend gemacht werden könne. "Es ist interessant, dass die Betroffenheit nicht zu eng ausgelegt werden darf. Vielleicht können dann eines Tages auch Väter gegen die Abtreibung ihres Kindes klagen. Das wurde bisher immer abgelehnt wegen scheinbarer Nicht-Betroffenheit", sagte Steeb gegenüber pro. (pro)

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