„Scripted Reality“: Täuschung als Geschäftsmodell

"Die große Illusion – Was machen die Medien mit unserem Weltbild?" lautete der Titel des "Thüringentages" zum Thema "Medien und Ethik". Dazu hatten mehrere Fakultäten Thüringer Universitäten sowie der Deutsche Journalisten-Verband Thüringen in das MDR-Landesfunkhaus nach Erfurt eingeladen. Im Fokus standen dabei die Sendeformate der "Scripted Reality".
Von PRO

Die Düsseldorfer Philosophieprofessorin Simone Dietz gab mit ihrem Vortrag "Wozu brauchen wir überhaupt Wahrheit? Das Wahrheitsproblem in der Mediengesellschaft" zunächst einen philosophisch-ethischen Überblick zum Thema. Dabei vertrat sie die These, dass Massenmedien ein unverzichtbarer Bestandteil der Gesellschaft sind.

Die Wissenschaftlerin stellte zugleich die Frage, ob das, was dort gezeigt werde, auch wahr und zutreffend sei. Es könne darüber hinaus sein, dass die Wahrheit vom Publikum verkannt oder verachtet werde: "Vielleicht zieht das Publikum ein Mehr an Sensation und Spaß einem Mehr an Wahrheit vor." Aus Dietz‘ Sicht könne die Wahrheit nur im Singular gedacht und nicht erzwungen werden: "Aber wir brauchen die Wahrheit, um uns in der Welt zu orientieren oder um in Frieden miteinander zu leben."

Deutliche Kritik äußerte Dietz an so genannten "Scripted Reality"-Formaten, bei denen eine mit Laiendarstellern gespielte Handlung als vermeintlich reale Reportage verpackt wird: "Hier werden die Konsumenten und die Laienschauspieler selbst getäuscht. ‚Scripted Reality‘ ist die heuchlerische Fassade für einen Griff in die unterste Schublade." Wer in den Medien erscheint, entscheide sich daran, wer in die jeweiligen Schablonen passe. Dietz ermahnte dazu, soziale Wirklichkeit nach den eigenen Kriterien mitzugestalten. Unverzichtbar für die Wahrheit sei die Pluralität und die Überprüfung davon, wie relevant Informationen sind: "Es dürfen keine Relevanz-Kommissare entscheiden, was gesendet wird und was nicht." Medien müssten klarer Gegenstand eigener Reflexion und Medienkompetenz keine einseitige Leistung der Konsumenten sein.

Scripted Reality ist Täuschung

Auf die Scripted Reality-Formate und ihren Programmkontext ging der Potsdamer Kommunikationsforscher Hans-Jürgen Weiß ein. Weiß deutete die Formate als "Täuschung als Geschäftsmodell". "Viele Bereiche des Fernsehens wie Nachrichten, Filme, Serien, Shows haben alle Inszenierungsmomente. Nur mit anderen Techniken und Mitteln", betonte Weiß. Die Trennung zwischen realitätsvermittelnden und fiktionalen Formaten sei nur noch selten aufrecht zu erhalten.

"Die Vorspiegelung von Echtheit ist ein klares Bauprinzip des Formats", sagte Weiß. Aufgrund der erhobenen Daten zeigte er auf, dass beispielsweise der Fernsehsender RTL seine hohen Marktanteile nicht in der Prime Time, sondern über den Tag hinweg bei 5 Stunden und 30 Minuten Scripted Reality erreiche. In derselben Programmfamilie liege der Spitzenwert bei VOX mit täglich 9 Stunden. Der Sender codiere diese Programme selbst als Informationssendung. Einen ähnlichen Wert erziele der Fernsehsender SAT 1. "Man sieht, dass Realitätsunterhaltung vor allem Wirklichkeit im Privatfernsehen ist."

Den aufsichtsrechtlichen Handlungsbedarf gegen diese Formate sah Weiß eher als gering an: "Der gesellschafts- und medienpolitische Diskussionsbedarf ist dagegen groß." Es gebe Fragen zur Glaubwürdigkeit: "Faktisch werden alle Register gezogen, um den Konsumenten hinter das Licht zu führen." Fraglich sei auch die Professionalität eines verdeckt-fiktionalen Fernsehformats: "Gibt es nicht doch durch die Hintertür Verletzungen der Menschenrechte?", fragte Weiß.


Worüber Medien gerne schweigen

Über die "Lücken der Öffentlichkeit" und worüber Medien gerne schweigen, referierte der Journalistik-Professor Horst Pöttker von der Technischen Universität Dortmund. Er ging der Frage nach, warum Journalisten bestimmte Themen vernachlässigen: "Für Journalisten gibt es eine Grundpflicht zum Publizieren. Es ist ein schwereres Vergehen, gar nicht über ein Thema zu berichten, als verzerrt darüber zu berichten oder es zu verschweigen." Möglicherweise existierten moralische Gründe, die Journalisten auf eine Publikation verzichten lassen.

"Zensur ist ein Faktor, der von außen auf die Medien einwirkt", verdeutlichte Pöttker. Politische Zensur und ökonomische Lenkung ließen sich nur schwer voneinander trennen: "Es gibt verdeckte Lobbyzirkel und PR-Kampagnen, um sich die Glaubwürdigkeit der Journalisten zu besorgen." Pöttker fragte auch, woran es liegt, dass die Medien im Falle des sexuellen Missbrauchs so lange geschwiegen hätten. Hierbei handele es sich um ein kulturelles Tabu, mit dem niemand, auch Journalisten, öffentlich etwas zu tun haben wolle: "Hier wurde über Jahrzehnte eine Lücke der Öffentlichkeit aufrecht erhalten." Es gehöre zum professionellen Journalismus, diese Tabus zu überwinden.

Neben einer gründlichen Recherche und der richtigen Darstellung sei es auch das Ziel des Journalisten, ein möglichst großes Publikum zu erreichen. Je mehr der Faktoren Nähe, Prominenz, Überraschung und Konflikt erfüllt sind, desto größer sei die Wahrscheinlichkeit, in den Medien zu erscheinen. Meldungen, die durch dieses Raster fielen, führten zu einer Vernachlässigung, obwohl es sich um wichtige Probleme handele. Auch erst im Nachhinein erkannt worden sei der "rechtsterroristische Untergrund" in Deutschland: "Die Öffentlichkeit, aber auch die Polizei und die Nachrichtenbehörden haben erst spät davon erfahren." Pöttker fragte, ob nicht auch ein wachsamer Journalismus die problematischen Zustände nicht schon früher transparent hätte machen können.

"Verstand der Konsumenten nicht unterschätzen"

Der Direktor des MDR-Landesfunkhauses, Werner Dieste, hatte in seiner Begrüßung gefordert, einen Mechanismus zu finden, der bei der Vielzahl an Informationen Orientierung bietet: "Die manipulativen Mechanismen sind uns bekannt. Wir müssen uns fragen, wo die Verantwortung der Medien und wo die der Familien und der Gesellschaft liegt." Dieste appellierte an seine Zuhörer, die Medien nicht zu verteufeln und nicht den Verstand der Konsumenten unterschätzen. (pro)

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