Religion Macht Gewalt

Macht Religion gewalttätig? Das Monatsmagazin "Geo" hat die Frage "Wie gefährlich ist Religion?" zum Titelthema erkoren. Wer die beiden Titelgeschichten gelesen hat, müsste zu dem Schluss kommen: Egal, um welche Religion es sich handelt, irgendwie macht sie die Menschen verrückt.
Von PRO

Für die "Geo"-Ausgabe vom April 2012, die gerade erschienen ist, stellt der Chefredakteur Peter-Matthias Gaede zunächst im Editorial klar: "Die größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts waren Verbrechen religionsverachtender Regime, waren Verbrechen von säkularen Massenmordsystemen mit den weltlichen Despoten Hitler und Stalin, Mao und Pol Pot an der Spitze." Viele Gläubige weltweit hätten ihre Kraft in den Dienst von Menschenliebe, Uneigennützigkeit und Versöhnung gestellt, stellt Gaede fest. Dennoch gebe es eben auch eine brutale Seite der Religion: "Schiiten sprengen Sunniten in die Luft, Sunniten massakrieren Schiiten. In den USA brennt ein Koran, in Afghanistan fallen daraufhin Köpfe von UNO-Mitarbeitern. In Ägypten werden Kopten von Muslimen umgebracht, auch in Nigeria sterben Christen von der Hand eines islamischen Mobs."

Das Titelthema lautet aber nicht "Wie gefährlich ist der Islam?", und der Untertitel "Glaube und Fanatismus" schließt bewusst andere Religionen in die Analyse mit ein. So ist auf dem Titelbild vor einem brennenden Horizont eben nicht nur ein islamischer Halbmond zu sehen, sondern auch ein Kreuz und ein Davidstern. In den USA hetzten "christliche Fundamentalisten" gegen den "Araber" Obama, heißt es im Editorial weiter, und eine katholische Sekte leugne den Holocaust. Außerdem gebe es radikale Juden, die Frauen als Huren beschimpfen, wenn sie keine Geschlechtertrennung in Bussen wollen. Offenbar setzt Gaede Mord und Totschlag mit Demonstrationen religiöser Überzeugungen gleich.

Der Journalist schließt: "Sosehr auch allen Konflikten der Gegenwart ökonomische, politische, ethnologische, demografische Hauptursachen zugrunde liegen mögen: Wo Religion dazukommt, heizt sie Konflikte an und verlängert sie." Gaede fragt: "Sollen wir auf den Glauben hoffen?"

"Religion bringt Zauber ins Leben"

Die Antwort sollen zwei Texte liefern, von denen der erste der Frage "Wie gefährlich ist Religion?" nachgeht, und der andere den Blick ausschließlich auf Jerusalem wirft, der "am stärksten politisch zerklüfteten Metropole der Welt".

Der – wie für "Geo" üblich – reich bebilderte Artikel der Autorin Hanne Tügel beginnt mit dem Foto einer wütende Menge aus fanatischen Moslems, die nicht nur mit dem Koran winken, sondern auch mit Steinen, Gewehren und Äxten. Menschen, die nicht davor zurückschrecken, Menschen umzubringen, weil sie einer anderen Religion angehören. Fast so wie in Nordirland, wo Katholiken und Protestanten bis vor einigen Jahren aufeinander losgingen. "Frommer Fanatismus kennt keine Zweifel", stellt Tügel fest.

Wer aber, wie der britische Biologe Richard Dawkins, Religion von Grund auf für eine Wahnvorstellung halte, argumentiere "an 85 Prozent der Weltbevölkerung vorbei", schreibt Tügel. Der Philosoph William James habe in seinem 1901 veröffentlichten Buch "Die Vielfalt religiöser Erfahrung" die These aufgestellt: Ähnlich wie Liebe oder Ehrgeiz bringe Religion bei ihren Anhängern einen "Zauber ins Leben, der nicht rational oder logisch ableitbar ist". Diese "exzessive Heiligkeit" könne sich in Fanatismus, Selbstquälerei und Leichtgläubigkeit ausdrücken.

Sintflut als Beispiel für Gewalt durch Christen?

Religiöser Fundamentalismus führe in muslimischen Ländern zu drakonischen Strafen, selbst bei Kindern. Abfall vom Islam sei die schlimmste Sünde, und nur wer bei ihm bleibe, habe ein Zuhause.

Doch wie steht es mit dem Christentum? "Die Bibel kennt Grausamkeiten zur Genüge", schreibt Tügel und verliert dabei aus dem Auge, dass das eine alltägliche Grausamkeiten in unseren Tagen sind, das andere aber Tausende Jahre alte Texte, die von Ereignissen berichten und weniger Handlungsanweisungen darstellen. "Der Gott des Alten Testamentes schickte die Sintflut, um die Menschheit bis auf Noahs Familie zu vernichten." Die Autorin verweist zudem auf die Städte Sodom und Gomorrha, die Gott laut Bibel in Schwefel und Feuer untergehen ließ sowie auf die Ägypter, die auf Geheiß Gottes im Roten Meer ertranken. Interessant ist dabei freilich, dass hier die Autorin Beispiele für Brutalität einer Religion heranzieht, indem sie auf Ereignisse verweist, die angeblich vor 3.000 Jahren geschahen. Die Frage, für wie historisch sie diese biblischen Berichte überhaupt hält, bleibt offen.

Doch auch die Apokalypse bietet treffliche Hinweise auf Gewalt – es  ist dabei wohl unerheblich, dass das Buch der Offenbarung des Johannes von Ereignissen handelt, die noch nicht einmal geschehen sind, sondern noch passieren sollen. "Ungläubige werden getötet, und ein Tausendjähriges Reich des Friedens bricht an", macht Tügel an dem biblischen Text fest. Der bekannte Prediger Billy Graham habe immerhin gesagt, dass diese Prophetien des Johannes "in den nächsten Jahren" Wirklichkeit werden sollen, schreibt die Journalistin. Auch das Judentum kenne ein messianisch-apokalyptisches Szenario, erinnert Tügel. Alle Brutalitäten zusammengenommen –  die gegenwärtigen und die zukünftigen – nennt die Autorin "Gewaltfantasien im Islam, Christentum und Judentum".

Tügel: "In fast allen Fällen sind religiöse Ursachen für Konflikte kaum entwirrbar mit anderen verstrickt: mit Ressourcen- und Gebietsansprüchen, mit jahrhundertelang gepflegter Zwietracht aufgrund von ethnischen, sprachlichen und ökonomischen Unterschieden von Volksgruppen." Dennoch erwähnt Tügel 40 Beispiele für den vorbildlichen Einsatz religiöser Führer, die der Politikwissenschaftler Markus Weingardt in seinem Buch "Religion Macht Frieden" zusammengetragen hat. Dazu gehören etwa philippinische Christen, die sich Panzern entgegen gestellt haben, oder ein Rat aus Christen und Muslimen, der sich im Krieg in Sierra Leone zusammenfand.

Wenn Juden unter Arabern siedeln

Der zweite Text zum Titelthema stammt von "Geo"-Autor Malte Henk, der ein Jahr lang für das Magazin in Israel lebt und arbeitet. "118 Mal haben Armeen um diese Stadt oder in ihr gekämpft, 44 Mal wurde sie erobert, 23 Mal belagert", schreibt Henk über Jerusalem. Jeder Versuch, im Nahen Osten Frieden zu schaffen, müsse mit dieser Stadt beginnen.

Er beschreibt das Schicksal einer palästinensischen Familie in Silwan, die von "bewaffnete Juden" aus ihrer Wohnung vertrieben worden seien. Tatsächlich war ihr Haus verkauft worden, und die Käufer waren Juden. "Bald war klar, dass der Käufer, ein Araber, als Strohmann für eine jüdische Organisation Wohnraum im Palästinenserviertel beschaffte." Andere jüdische Familien zogen ebenfalls in das Viertel. Wer das bereits für einen Skandal hält, kann wohl auch Henks Verwunderung darüber verstehen, dass die jüdischen Bewohner nur unter Polizeischutz ein normales Leben dort führen können. "Wie ein unsichtbarer Andreasgraben" verlaufe durch Jerusalem ein Riss zwischen Juden und Muslimen.

Aber die Opfer sind bei Henk hauptsächlich die Araber. Wenn Juden Palästinenser ermorden – und das passiert nach Henks Darstellungen offenbar sehr häufig –  halten die Behörden immer mit den Juden und erschweren den Prozess um Aufklärung und Gerichtsverhandlung.

Henk gibt in einem kurzen Abriss die Geschichte des Staates Israel wieder, hütet sich aber davor, die alles entscheidende Frage eindeutig zu beantworten: Wem gehört das Land? Juden und Moslems lebten immer schon in diesem Land, als dann 1948 die arabischen Nachbarstaaten die Gründung eines israelischen Staates verhindern wollten und angriffen, war das Ergebnis laut Henk "teuflisch unklar": Jerusalem wurde geteilt wie Berlin, halb jüdisch, halb arabisch. Am 7. Juni 1967 dann der Sieg im Sechs-Tage-Krieg und die umjubelte Rückeroberung ganz Jerusalems.

Heute finde der Krieg in der Demographie statt: Wer siedelt wo, wie schnell wächst die Bevölkerung der jeweils anderen? Bei "Geo"-Autor Henk liegt das Problem auffällig oft auf der Seite der orthodoxen Juden, den Männern mit Schläfenlocken und den schwarzen Gewändern. Beispiele: "Sie gründen Synagogen in Privathäusern. Und ihre Rabbis haben durchgesetzt, dass im Kindergarten ein Zaun die spielenden orthodoxen von den spielenden säkularen Dreijährigen trennt", so Henk. Jüdische Aktivisten veröffentlichen die Namen von Geschäftsleuten, die Palästinensern Arbeit geben, "oder sie verteilen Gütesiegel an Restaurants, in denen keine Araber in der Küche stehen." Oder: "In den Krankenhäusern von Ost-Jerusalem wehren sich radikale Siedler manchmal dagegen, arabische Ärzte an sich heranzulassen. Der Jerusalemer Fußballclub Beitar gibt arabischen Spielern keine Verträge (…)". (pro)

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