"Manchmal war ich ein bisschen wütend, weil gerade auch die evangelische Kirche gerne dem Zeitgeist nachläuft", gab Joachim Gauck in der Sendung "Alpha Forum" des zum Bayerischen Rundfunk gehörenden Senders "BR alpha" zu. In der Zeit der 70er Jahre sei die Kirche "in einer post-68er-Phase auf dem Trip des linken Zeitgeistes" gewesen und sei dann "auf dem linken Auge erblindet". "Ralph Giordano sprach mal von der ‚Internationale der Einäugigen‘, als er diejenigen ansprach, die die Gebrechen des Kommunismus erstens nicht sehen und zweitens nicht kritisieren wollten."
Gauck weiter: "Man war also ‚fortschrittlich‘ im linken Sinne und wollte nicht so sprechen wie Franz Josef Strauß oder die CSU, und dann war man so ein bisschen leicht pro-sozialistisch." Es stimme, wenn die Kirche heute sage, sie sei "nie für die DDR" gewesen. "Aber sie waren doch urteilsschwach, was die rote Diktatur betrifft", findet Gauck. Die sozialistischen Verhältnisse habe man sich "zurechtgeguckt" und sei nicht mehr bereit dazu gewesen, "eine wirkliche Deligitimierung von Diktatur zu wagen, und dazu hätte es wahrlich genug Gründe gegeben".
Linksromantische Brille statt Akzeptanz der Freiheit
"Und dann gibt es natürlich eine gewisse linksromantische Sicht, die immer schon der Wirklichkeit Gram ist", fuhr Gauck fort. "Und diese intellektuellen Gruppierungen gibt es nach wie vor. (…) Sie sind dauernd auf dem antikapitalistischen Trip, ohne zu bedenken, dass wir, wenn wir Freiheit wollen, auch Freiheit in der Wirtschaft akzeptieren müssen. Und sie faseln vom Systemwechsel, ohne beschreiben zu können, welches System denn an die Stelle der parlamentarischen Demokratie und ihrer Freiheit treten soll."
Schließlich fehle ihm bei "seinen Evangelen" manchmal eine Fähigkeit, die laut Gaucks Auffassung zum Grundbestand eines glaubenden Menschen gehören sollte: "Die Fähigkeit zur Freude und zur Dankbarkeit über das, was uns in die Hände gegeben ist und woran wir haben mitwirken können."
Nächstenliebe am besten mit gesundem Selbstbild
Der künftige Bundespräsident sprach in dem Interview auch über das christliche Gebot der Nächstenliebe. Diese sei anders zu verstehen als das Zerrbild, das manchmal von ihr verbreitet wird: "In dem Text heißt es: ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.‘ Und eine bestimmte Form von christlicher Moralität hat die Liebe zu sich selbst weggenommen, weil es zu gefährlich schien. Einem Moralisten erscheint die Selbstliebe zu gefährlich, das könnte in Egoismus ausarten", erklärte der Theologe. "Tatsächlich aber wird derjenige immer besser Nächstenliebe praktizieren können, der auch ein positives und gutes Verhältnis zu sich selber hat. Und in der modernen christlichen Verkündigung wie Moraltheologie weiß das auch jeder."
Joachim Gauck beklagte, dass ganze Milieus nicht mehr als Bürger, sondern nur noch als passive Konsumenten in unserer Demokratie lebten. "Kein Diktator weit und breit, aber bestimmte Teile der Bevölkerung existieren als Bürger nicht – nicht als Wähler, nicht als Aktive in einem Verein." Manche Menschen, so Gauck, flüchteten sich freiwillig in Ohnmacht, um sich für nichts verantworten zu müssen. Mitten aus unserer Gesellschaft entstehe so eine ideologische Bedrohung: Nicht Faschismus, Kommunismus oder Islamismus, sondern ein "Ich bin nicht zuständig". Viele dieser Menschen suchten ihr Glück im Konsum, der ihren Hunger jedoch nicht stillen könne.
"Die Freiheit, etwas zu tun oder zu lassen", so der gemeinsame Präsidentschaftskandidat von Union, FDP, SPD und Grünen, "macht vielen Menschen Angst. Das ist es, was sie fürchten: die Eigenverantwortung". Dabei werde das Leben aller Menschen reicher, wenn sie sich engagieren und sich um andere kümmern würden.
"Käßmann hat, was Guck fehlt"
"Gauck wird Merkel in seinen Reden vieles erzählen, was ihr nicht gefällt", sagte der Journalist Sergej Lochthofen in einer Analyse für den Radiosender "hr-info". Doch könne Gauck noch zum Sieg für Angela Merkel werden, wenn SPD und Grüne realisierten, dass Gaucks Positionen ihnen erst recht nicht gefallen: "Die meisten haben ja scheinbar dem Gauck nicht zugehört – das ist ein stockkonservativer Mann. Das heißt, er passt auch nicht in diese Zeit, in den 90er Jahren wäre er vielleicht ganz gut gewesen." Lochthofen war zwischen 1990 und 2009 Chefredakteur der "Thüringer Allgemeine", sein Vater Lorenz gehörte vor der Wende zeitweise dem Zentralkomitee der SED an.
"Die Ernüchterung bei vielen Kollegen, die im Augenblick euphorisch über diese Dinge berichten, kehrt sehr schnell ein", prognostizierte Lochthofen im Hinblick auf die überwiegend positive Berichterstattung der Presse über Gauck. "Nicht, weil der Mann wirklich schlechte Reden halten sollte, nein, der kann gut reden – aber die Auffassungen, die er zum Teil hat, die passen nicht mehr in die Zeit." Lochthofen weiter: "Wenn sie beispielsweise Margot Käßmann nehmen, dann sehen sie genau, was ihm fehlt." (pro)