Von Krisen und Menschen

Die EU-Schuldenkrise beherrscht die Schlagzeilen. Die Schuldigen sind schnell ausgemacht: "Die Banker". Tatmotiv: "Die Gier". Lösungen liegen ebenso schnell parat: Wenn der Kapitalismus zu Krisen führt, dann schaffen wir ihn doch lieber ab und geben dem Staat mehr Macht, zum Beispiel durch die Verstaatlichung der Banken. Aber liegt die Lösung wirklich in der Regulierung? Ein Gastbeitrag von Hans-Jörg Naumer
Von PRO

Wenn die Welt so einfach wäre. Faszinierend ist, dass  hier – wie bei vielen anderen großen und kleinen Themen, welche die politische Debatte bestimmen – gedanklich der Philosophenstaat  aufleuchtet, wie ihn Karl Popper in "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" 1945 veröffentlicht und demaskiert hat. Der Philosophenstaat Platons – Traumgebilde und Paradoxon zugleich: Traumgebilde, weil es den reinen Gutmenschen, der immer nur das Beste für die Gesellschaft will, nicht gibt. Paradoxon: Menschen, die zum Schlechten fähig sind, können in ihrer Gesamtheit,  ausgestattet mit letztlich diktatorischer Gewalt, durch Macht alleine nicht gut werden. Was aber ist "der Staat" anderes als die Zusammensetzung von Menschen? Kurz: Regierungen bestehen auch nur aus Menschen, und seien es lauter Philosophen.

Dabei ist der historische Blick auf die EU-Schuldenkrise besonders aufschlussreich: War es nicht der Staat,  genauer: Staaten, welche in letzter Konsequenz zu Finanzmarkt- und Schuldenkrise führten? War es nicht das billige Geld der japanischen Zentralbank, welches in den 90er Jahren um die Welt und vor allem nach Asien schwappte und dort die Asienkrise verursachte? War es nicht die (staatliche) US-amerikanische Zentralbank, welche als Antwort auf die Asienkrise die Märkte weiter mit Liquidität flutete und damit den Grundstein für die Aktienmarktblase zum Ende des letzten Jahrtausends legte? Dazu das Clinton’sche Programm, welches die amerikanische Bevölkerung zu einem Volk von Hausbesitzern machen wollte. Billiges Geld, staatliche Programme und eine Refinanzierung, welche die Kreditkosten unmittelbar an den Zinszügel der Zentralbank knüpfte – die nächste Blase ließ nicht lange auf sich warten. Auch staatliche Banken spielten mit, in dem sie in so genannte "Subprime-Anleihen" investierten, die Hypothekenkredite schlechter Schuldner  bündelten und sie so handelbar machten. Durch diese Anleihen wurde die Immobilienkrise in den USA aber erst so richtig angefeuert.

Schuldenkrise – ein Produkt der Politik

Und die EU-Schuldenkrise? Ein Produkt zuerst der Politik, nicht der Märkte. Ebenso wie der Euro selbst, der ökonomisch unterschiedliche Länder auf politischem Wege mit einer gemeinsamen Währung verbindet. Und: Woher stammen denn die Schulden Griechenlands und der EU-Staaten? Von den Finanzmärkten oder von den Staaten, die ihre Umverteilungsprobleme ventilieren, indem sie die Folgen auf die kommenden, schrumpfenden Generationen abwälzen? Die Akteure an den Finanzmärkten waren es dann, die die Schuldnerstaaten abstraften, als sie merkten, dass die öffentlichen Haushalte nicht nachhaltig geführt werden. Bei Licht betrachtet agieren sie als die Anwälte der Anleger: Wer eine schlechte Bonität hat, muss entsprechend höhere Zinsen zahlen. Je niedriger die Kreditwürdigkeit eines Landes ist, desto mehr muss dieses Land den Anlegern also bieten.

Was sind die Lehren aus der Finanzmarkt- und der EU-Schuldenkrise?
– Mit einfachen Erklärungsmustern ("die Gier") und Schuldzuweisungen ("die Banker") kommen wir nicht weiter. Heißt es nicht auch im Neuen Testament: "Was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders und siehst doch nicht den Balken im eigenen?"
– So wichtig die Rolle der Regierungen, der Staaten und staatlicher Institutionen, wie der Europäischen Zentralbank, bei der Krisenbehebung auch ist, sie alleine sind nicht die Lösung. Denn hinter jeder Regierung, jeder Institution stehen Menschen, die allzu menschlich sind, und letztlich haben sie auch ihren Anteil an der Krise. Für Christen ist diese Erkenntnis nicht überraschend, denn sie wissen, dass niemand frei ist von fehler- oder sündhaftem Handeln.
– Wir müssen aus Krisen, auch aus dieser, lernen, um sie zukünftig zu vermeiden oder zumindest abzumildern. Unterdrücken aber sollten wir Krisen nicht. Wachstum, Wohlstand und Menschenwürde bedürfen der Freiheit. Wo es keine Freiheit gibt, gibt es keine Entdeckung des Neuen, gibt es keine schöpferische Zerstörung des Alten.
– Dabei ist für die Systemdebatte wichtig zu verstehen: Kapitalismus ist nicht Soziale Marktwirtschaft und damit nicht die Wirtschaftsordnung, die auf dem so genannten "Ordoliberalismus", dem theoretischen Grundgerüst für die Soziale Marktwirtschaft, aufbaut. Kapitalismus hat kein Interesse an Machtkontrolle und an Wettbewerb. Das lässt sich etwa an kapitalistischen (!) Staaten wie Russland und China besonders schön nachvollziehen. Wo sonst hat sich in so kurzer Zeit eine derartige Ansammlung an Millionären herausbilden können?
– Wenn es um "Ordoliberalismus" geht, geht es um einen durch den Staat geschaffenen Ordnungsrahmen, der ökonomischen Wettbewerb und die Freiheit der Bürger dauerhaft gewährleistet, ohne die soziale Frage aus dem Auge zu verlieren.

Kein "Weiter so!"

Und genau hier stehen wir am Scheideweg: Was ist die Antwort auf die Krise? Ein "Weiter so" wird und kann es nicht geben. Findet sich die Antwort im Systemwechsel oder finden wir einen Weg, der fehlerhaft handelnde Menschen wie Staaten so zusammenbringt, dass Krisen beherrschbar bleiben und das Schöpferische nicht unterdrückt wird?

Spätestens jetzt schlägt meines Erachtens die Stunde des Ordoliberalismus: Märkte brauchen Regeln, damit Wettbewerb ein Wettbewerb unter Gleichstarken ist und Wohlstand in der Breite entstehen kann, und zwar nicht erst durch Umverteilung. Dazu gehört auch die unbequeme Erkenntnis: Krisen gehören zum Wohlstand dazu. Krise als Ausdruck des "Entdeckungsmechanismus’" (Hayek) und damit der "offenen Gesellschaft", die Altes zerstört und Neues schafft. Das kann sich in kleinen Krisen ausdrücken, die zu Konjunkturschwankungen führen, aber auch in großen, die zu neuen Wachstumszyklen führen. Und hier schließt sich der Kreis: Die Geschichte unseres Wohlstandes ist auch die Geschichte der Krisen. Jeder der seit Ende des 18. Jahrhunderts messbaren Kondratieff-Zyklen – langfristige Wellen des Aufschwungs, benannt nach dem russischen Ökonom Kondratieff – endete in einer Krise, auf die ein langer Aufschwung folgte. Der daraus resultierende Breitenwohlstand ist historisch einzigartig.

Geburtsstunde der neuen Wachstumswelle

Über den Tellerrand hinaus gedacht, ist auch die jetzige Krise die Geburtsstunde der neuen Wachstumswelle. Tragisch wäre es nur, wenn die Weichen falsch gestellt würden. Auch Marx schrieb seine Theorie unter dem Eindruck der Krise, die auf den von Dampfmaschine und Textilindustrie verursachten Boom folgte. Eine Beschreibung, die in der intellektuellen Debatte bis heute übrigens unreflektiert konserviert wird.

Was heißt das konkret für einen Ordnungsrahmen, der hilft, wieder aus der Krise heraus zu kommen und eine Wiederholung zu vermeiden?
– Im Zentrum steht das Verursacherprinzip: Jeder haftet selbst für die Risiken, die er eingegangen ist und die Entscheidungen, die er getroffen hat.
– Verursacherprinzip heißt auch, dass die EZB nicht am Ende die Suppe auslöffeln muss, um das Schlimmste zu verhindern. Wer begründet darauf spekulieren kann, dass die Zentralbank einspringt, wenn man selbst Fehler gemacht hat, geht überhöhte Risiken ein, da er die Gewinne einstreicht und die Verluste sozialisiert.
– Banken müssen so aufgestellt werden, dass es ein Drohpotenzial nicht geben darf, das da lautet: "Wenn wir in die Schieflage geraten, reißen wir den ganzen Markt mit" ("too big to fail"). Hier muss jede Regulierung ansetzen.
– Auch einen Bonitätstransfer, wie er mit Eurobonds kommen würde, darf es nicht geben. Das würde bedeuten, dass schwache Staaten mit schlechter Bonität von der besseren Bonität starker Staaten profitieren würden – und umgekehrt. Stellt nämlich ein Staat mit besserer Bonität diese zwecks Schuldenfinanzierung höher verschuldeten Staaten zur Verfügung, wird deren Finanzierung der Schulden billiger. Folge: Der Druck zum Sparen lässt nach.
– Mit am schmerzlichsten ist sicher die Erkenntnis: Wir brauchen ein Zurück der Regierungen zu guter Haushalterschaft. Altschulden müssen getilgt werden, Neuverschuldungen darf es keine mehr geben. Die Schuldenbremsen, wie sie unter anderem Deutschland und Spanien – Spanien direkt als Antwort auf die Krise – eingeführt haben, sind da wichtige Schritte in die richtige Richtung.

Ergo: Die Lösung liegt nicht im Kapitalismus oder Sozialismus, sondern im Dritten Weg – dem Ordoliberalismus. Zurück zu den Vätern der Sozialen Marktwirtschaft, zurück zu Ludwig Erhard also, und zurück zu Wilhelm Röpke, Alfred Müller-Armack und Friedrich August von Hayek. Karl Popper nicht zu vergessen, damit unsere Gesellschaft eine offene bleibt. (pro)

Hans-Jörg Naumer (44) ist seit 2000 Leiter Kapitalmarktanalyse bei "Allianz Global Investors" und schreibt Kolumnen in bekannten Anlegermagazinen. Seine Studien der Kapitalmarktanalyse erscheinen in bis zu elf Sprachen und werden weltweit gelesen. Der Beitrag ist in der aktuellen Ausgabe des Christlichen Medienmagazins pro erschienen, die kostenlos unter 06441/915 151 oder unter info@pro-medienmagazin.de bestellt werden kann.

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