"Jetzt war ich also offiziell ein Junkie", bekennt Martin Dreyer schon auf den ersten Seiten seiner Biografie "Jesus-Freak – Leben zwischen Kiez, Koks und Kirche". Dort beschreibt er seinen totalen Absturz vor 13 Jahren. "Ich spritzte mir eine Überdosis – was mir zu dem Zeitpunkt nicht klar war. Vermutlich bin ich sofort ins Koma gefallen und lag dort drei Tage in meinem Zimmer." Dreyer überlebt, es folgen Jahre der Rehabilitation. Zwei Jahre zuvor war seine Beziehung zu Ulrike Dreyer gescheitert. "Mir war die Arbeit mit den Jesus Freaks sehr viel wichtiger als meine Ehe", bekennt er.
In "Volxbibel"-Sprache hieße das wohl: Hier lässt einer mal so richtig die Hosen runter. Nicht nur deshalb erinnert Dreyers Biografie an Walter Heidenreichs "Help, I need somebody", in dem der Charismatiker von seinen Anfängen in der Pfingstbewegung und dem eigenen Drogenproblem berichtet. Wie Heidenreich, zählt auch Dreyer zu den ebenso innovativen wie umstrittenen Gallionsfiguren der christlichen Jugendarbeit. Dreyer gründete 1991 die "Jesus Freaks", eine christliche Punkbewegung. 2005 erschien die "Volxbibel", Dreyers Übertragung des Neuen Testaments in Jugendslang.
Doch das Leben des gebürtigen Hamburgers ist alles andere als eine Aneinanderreihung erfolgreicher Missionsprojekte. Schon in der Schulzeit nimmt er die ersten Drogen: "Ich hatte mit diesem ersten Zug am Joint eine Tür aufgestoßen, die nicht wieder verschlossen werden konnte", schreibt er. Bis dato noch kein Christ, packt ihn dennoch der Glaubens-Enthusiasmus seiner Familie. Vater, Mutter und Geschwister entdecken in der späteren Anskar-Kirche in Hamburg eine neue Art des Christ-Seins. Auch Dreyer bekehrt sich schließlich und schwört den Drogen ab. Selbst in der Schule lebt er seinen Glauben – wenn auch heimlich: "Das Schul-WC wurde zu meiner Kirche und der Klodeckel zu meinem Altar. Hier schüttete ich mich vor Gott aus, sagte ihm meine Gebetsanliegen und las in der Bibel. Ich hatte an diesem Ort in den nächsten Jahren sehr viele intensive Zeiten mit Gott."
Die ersten "Jesus-Abhängabende"
Ein Praktikum bei "Jugend mit einer Mission" in Amsterdam verändert 1987 sein Leben. Hier lernt er eine christliche Jugendarbeit unter Punks kennen, die die "Jesus Freaks" wie nichts anderes prägen soll. Nach seiner Rückkehr veranstaltet Dreyer gemeinsam mit seiner Frau und zwei Freunden Gebetstreffen im eigenen Wohnzimmer. Er nennt sie "Jesus-Abhängabende". Ein Flyer soll Nichtchristen – je freakiger, desto besser – anlocken. "Komme nur, wenn du wirklich willst! Es könnte dich dein Leben kosten!", steht darauf. Bald reicht das Wohnzimmer nicht mehr aus, um die vielen Menschen zu fassen. Die "Jesus Freaks" mieten Räume an, haben bald einen Standort in einer Seitenstraße der Reeperbahn.
Auch die Medien werden auf die verrückt anmutenden Christen aufmerksam: Ausgerechnet die linkspolitische "Tageszeitung" (taz) schreibt als erste über die Freaks. Ein Redakteur meldet sich telefonisch mit den Worten bei Dreyer: "Entweder ihr seid alle psychisch krank und braucht eine Behandlung. Oder das, was ihr sagt, ist wahr, dann muss man sich damit beschäftigen." Der Artikel unter dem Titel "Jesus, das ist dein Abend. Mach, dass er gut wird" wird durchweg positiv. Es folgen das "Hamburger Abendblatt", "Die Welt", die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", die "Bravo", Hörfunk und Fernsehen. Bis heute haben alle größeren deutschen Medien über die "Jesus Freaks" berichtet, einige negativ, die meisten aber mit positiver Konnotation.
Mit dem Sarg über die Reeperbahn
Dreyer versteht schnell, "dass man mit einer Predigt auf einer Apfelsinenkiste in St. Pauli niemanden erreichen würde". Er schreibt: "Wenn du jemanden wirklich zum Nachdenken bringen willst, dann musst du dir etwas Radikales, Schrilles, Lautes, etwas Provozierendes einfallen lassen." So veranstalten die Freaks Sarg- und Kreuzigungsaktionen auf der Straße. Dazu trägt eine Gruppe schwarz gekleideter Christen in einer Art lautstarkem Trauermarsch einen selbst gebauten Sarg durch den Kiez. Irgendwann stellen sie die Holzkiste ab. Heraus steigt Dreyer selbst, geschminkt als Untoter, und beginnt zu predigen. Ein anderes Mal spielen sie die Kreuzigung nach. 1994 wird Dreyer von der evangelikalen Zeitschrift "ideaSpektrum" für seinen Einsatz mit den "Jesus Freaks" zum "Christ des Jahres" gekürt.
Schon damals ist der heute 46-Jährige am Ende seiner Kräfte. Erste Anzeichen eines Burn-Outs machen sich bemerkbar. In New York erlebt er schließlich einen Drogenrückfall. Auf einer Technoparty nimmt er Ecstasy. "Drogenkaufen ist wie Fahrradfahren, so etwas verlernt man nicht", stellt er danach fest. In den kommenden Jahren wird er nicht mehr von den Drogen loskommen. Wegen seines Burn-Outs zieht Dreyer sich aus der Leitung der "Jesus Freaks", dem sogenannten "Ärsche-Kreis", zurück. 1997 verlässt ihn seine damalige Ehefrau Ulrike. Die unerwiderte Liebe zu einer Arbeitskollegin lässt ihn schließlich verzweifeln. Dreyer beginnt, Kokain zu spritzen. Die Überdosis im Jahr 1999 bringt ihn in eine Suchttherapie. Die Ärzte prognostizieren, dass er ein Leben lang auf Hilfe angewiesen sein wird.
Luther reloaded
Was in den kommenden Jahren bis heute geschieht, nennt er ein Wunder. Dreyer berappelt sich. Er lernt seine heutige Frau Rahel kennen. Gemeinsam mit ihr verlässt er Hamburg. In Köln beginnt er ein neues Leben, studiert Pädagogik und macht am Ende sogar sein Diplom. "Vor einigen Jahren hatten die Ärzte noch prophezeit, dass ich auf Lebzeiten ein Pflegefall sein würde, denn mein Gedächtnis war dauerhaft geschädigt. Aber jetzt war ich plötzlich in der Lage, einen Hochschulabschluss mit 1,7 zu bestehen", schreibt er. In dieser Phase hat er die Idee zur "Volxbibel". 2005 erscheint die jugendsprachliche Übertragung des Neuen Testaments, einige Jahre später auch die des Alten. "Die ‚Volxbibel‘ war in aller Munde", stellt er fest. Doch die Reaktionen sind bei weitem nicht nur positiv. Viele werfen ihm Gotteslästerung vor und unterstellen ihm, mit dem Teufel im Bunde zu sein. "Zu Spitzenzeiten bekam allein ich täglich bis zu sechshundert solcher Mails", schreibt er. Dennoch wird das Buch zum Erfolg – sowohl in den säkularen als auch in den christlichen Bestsellerlisten. Heute lebt Dreyer mit seiner Frau und seiner wenige Monate alten Tochter Zoé Marie in Berlin. Doch Dreyer ist sich sicher: "Trotzdem werde ich wohl nie ein ’normaler‘ Christ sein, der sonntagmorgens in die Kirche geht. Selbst mit achtzig Jahren werde ich noch ein Freak sein, jemand, der Dinge anders denkt und anders macht, der auch gerne einmal gegen den Strom schwimmt."
Einmal Freak, immer Freak
Nun hofft er, dass sich viele Leser in seiner Lebensgeschichte wiederfinden. "Ich wollte erklären, warum man überhaupt Drogen nimmt", sagt er im Gespräch mit pro. "Die Leser sollen sagen: Die Situation kenne ich." Das soll andere dazu bringen, trotz allem "mit diesem Jesus zu leben". Seine Lebenskrisen zu Papier zu bringen, sei ihm nicht schwer gefallen. Im Gegenteil, es habe ihm eher gezeigt, dass er immer dann zu Drogen gegriffen habe, wenn es ihm schlecht gegangen sei: "So bin ich dem Tod immer näher gerückt." Ihm sei klar, dass er sich mit seinem Buch extrem verletzlich gemacht habe. Doch Dreyer ist sich sicher: "Gott hat aus meiner Geschichte etwas gemacht, was andere ermutigt."
Einmal berufen, immer berufen – das gilt wohl im Falle Martin Dreyer. Wenige Christen in Deutschland haben in der Jugendszene so viel bewegt wie er. Wenige wurden so hoch gelobt und sind so tief gefallen. Seine Lebensgeschichte hat – zumindest nach Stand des Buches – ein Happy End. "Jesus-Freak – Leben zwischen Kiez, Koks und Kirche" erscheint am 1. März offiziell bei "Pattloch" und im "Volxbibel"-Verlag, ist aber schon jetzt in einzelnen Buchläden und online erhältlich. Das Buch sollte zur Pflichtlektüre für Leiter werden, predigt es doch das für Kirchenarbeit wohl wichtigste Prinzip: Die Gnade. (pro)