Julia Timoschenko: Keine Atheisten im Knast

Die Anführerin des politischen Widerstandes in der Ukraine und ehemalige Ministerpräsidentin des Landes, Julia Timoschenko, ist vor zwei Monaten wegen angeblichen Amtsmissbrauchs zu sieben Jahren Haft verurteilt worden. In der Gefängniszelle mache ihr der Glaube des deutschen Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer besonders Mut, schreibt sie in einem Beitrag, den die Tageszeitung "Die Welt" abgedruckt hat.
Von PRO
Zu Weihnachten veröffentlichte die "Welt" den Text Timoschenkos unter dem Titel "Hinter Gittern begann für mich der Anfang des Lebens". Dies bezieht sich auf ein Zitat aus dem Buch "Widerstand und Ergebung", das Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft Dietrich Bonhoeffers enthält. Das Buch, das sie "vor kurzem" gelesen habe, nennt sie "großartig und faszinierend". Der Widerstandskämpfer des "Dritten Reichs" spreche darin "seine Sehnsucht nach einem Jesus Christus" aus, der imstande sei, "einer Welt Barmherzigkeit zu erweisen, die dabei ist, für einen einzigen Mann geopfert zu werden".

Die 51-jährige Julia Timoschenko war in den Jahren 2005 und 2007 bis 2010 Ministerpräsidentin der Ukraine. Zuvor führte sie die so genannte "orangefarbene Revolution" des Jahres 2004 an. Sie studierte Wirtschaftswissenschaften und arbeitete zunächst als Wirtschaftsingenieurin. Später war sie Chefin einer Firma, die Erdölprodukte herstellte. Dann leitete sie den Energiekonzern EESU (Vereinte Energiesysteme der Ukraine). Gemeinsam mit ihrem Mann kaufte sie vor allem russisches Erdgas ein, um es nach Westeuropa weiter zu exportieren. Sie machte zwischen 1995 und 1997 im Gashandel Jahresumsätze von zehn Milliarden Dollar. Das Vermögen von Timoschenko, deren Spitzname seit dem "Gasprinzessin" ist, wurde 2007 auf mehrere Hundert Millionen Dollar geschätzt.

Am 11. Oktober 2011 wurde sie zu sieben Jahren Haft verurteilt. Die Russen werfen Timoschenko vor, Mitte der neunziger Jahre für die Bestechung von Beamten des russischen Verteidigungsministeriums gesorgt zu haben, um überhöhte Preise für Ausrüstungen und Energie zu erzielen, die ihre Firma an die russische Armee lieferte. Am 30. Dezember 2011 wurde sie laut einem Bericht der Nachrichtenagentur "Interfax-Ukraine" im Rollstuhl in die Frauenhaftanstalt Katschanowka transportiert. Sie könne aufgrund eines Rückenleidens nicht laufen, hieß es. Laut "Interfax" sitzen in dem Gefängnis zwischen 800 und tausend weibliche Häftlinge ein. Timoschenko bewohne eine für sieben Häftlinge bestimmte Zelle mit eigener Dusche.

Die ehemalige Regierungschefin hat angekündigt, ihren Fall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu bringen. Die EU und die USA fordern, sie freizulassen und ihr die Teilnahme an der Parlamentswahl im Oktober 2012 zu ermöglichen.

"Christus ist mit jenen, die leiden und verfolgt werden"

"Es heißt, im Schützenloch gibt es keine Atheisten. Hier – nach meinem Schauprozess und viereinhalb Monaten in der Zelle – habe ich entdeckt, dass es auch im Gefängnis keine Atheisten gibt", schreibt Timoschenko in dem Text, den die "Welt" von "Project Syndicate" übernommen hat, einer internationalen Non-Profit-Organisation mit Sitz in Prag. Sie habe unerträgliche Schmerzen und leide unter den stundenlangen Verhören und der Einsamkeit, gerade in der Weihnachtszeit.

Das Gebet sei ihr zum "einzig privaten, vertrauensvollen und einem Mut gebenden Gespräch" geworden, "das man haben kann". "Gott, so erkennt man, ist der einzige Freund und die einzige Familie, die einem zur Verfügung stehen – denn wenn einem selbst der Zugang zu einem Priester, dem man vertraut, genommen wird, ist niemand anders mehr da, dem man seine Sorgen und Hoffnungen anvertrauen kann."

In der Gefängniszelle werde ihr die "Freiheit des Geistes" wieder neu als Geschenk bewusst. "In der Dunkelheit der Zelle ziehe ich Stärke und Hoffnung aus der Tatsache, dass mir Gott irgendwie so nah zu sein scheint. Denn wo anders sollte Christus sein als mit jenen, die leiden und verfolgt werden?"

Der Glaube Bonhoeffers, der wie sie in einer Zelle gefangen gewesen sei, gebe ihr Hoffnung. "Bonhoeffer verfasste ein Buch reich im Glauben, voller Offenheit, Möglichkeiten und, ja, Hoffnung – selbst in der dunkelsten Stunde der Menschheit." Eine bestimmte Passage beeindrucke sie im Hinblick auf ihr Land besonders. Während er im Gefängnis auf seine Hinrichtung durch die Nazis wartete, schrieb Bonhoeffer: "Die Gottlosigkeit der Welt wird nicht… verborgen, sondern vielmehr aufgedeckt, und erscheint so in einem unerwarteten Licht."  Die "Gottlosigkeit, Unmenschlichkeit und das verbrecherische Wesen des Regimes, das heute in Kiew herrscht", werde irgendwann "im klaren Lichte vor aller Welt aufgedeckt werden", so Timoschenko, und weiter: "Sein demokratisches Getue ist als zynisches politisches Theater entlarvt, seine Behauptung, eine europäische Zukunft für die Menschen der Ukraine anzustreben, als Lüge enthüllt, und die Habgier seiner Kleptokraten offenbar."

Sie sei keine "Expertin für religiösen Glauben und geistige Werte", aber "eine Gläubige, die nicht akzeptieren kann, dass unsere Existenz das Ergebnis einer zufälligen Laune des Kosmos ist". Sie fügt an: "Wir sind, daran glaube ich, Teil eines rätselhaften, aber integralen Aktes, dessen Quelle, Richtung und Zweck, auch wenn sie manchmal schwer zu erfassen sind, eine Bedeutung und ein Ziel haben – selbst wenn man hinter Gitterstäben eingesperrt ist." (pro)
http://www.welt.de/debatte/die-welt-in-worten/article13784121/Hinter-Gittern-begann-fuer-mich-der-Anfang-des-Lebens.html
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