Es kommt einer Majestätsbeleidigung gleich, ich wage es trotzdem: Der in fast allen Medien gerühmte Ex-Kanzler Helmut Schmidt ist ungehobelt, arrogant und überbewertet. Es ist mir unverständlich, wie jemand, der nicht nur die Würde des Alters verkörpert, sondern auch als Ex-Bundeskanzler eine nachlaufende Repräsentationspflicht hat, etwa in einem Kommentar in seiner Hauspostille "Die Zeit" (14.7.2011) die Menschheit in drei Kategorien einteilt: in "normale Menschen", Menschen mit "krimineller Ader" und als Steigerung "Investmentbanker und Fondsmanager". Bei aller berechtigten Kritik am Verhalten so manches Finanzmanagers ist das doch eine Pauschalverurteilung, die eines differenzierten und auf dem Boden des Grundgesetzes stehenden (Ex-)Vertreters eines Verfassungsorgans nicht würdig ist. Mit seiner Wortwahl, diese Finanzmanager hätten fast die ganze Welt "in die Scheiße geritten", in einem Text, der ja nicht einer Schülerzeitung entstammt, disqualifiziert sich Schmidt zusätzlich.
Die Überhöhung von Helmut Schmidt durch die Medien, aber letztlich auch durch ihn selbst, mag auch in seiner selbst postulierten Gottesdistanz liegen. Das mag ja mancher überzeugte Atheist sympathisch finden. Wer aber niemanden über sich akzeptiert, keinen Gott und Menschen schon gar nicht, ist anfällig dafür, sich selbst zu wichtig zu nehmen. In Schmidts Versuchen, das Christliche in seiner Bedeutung zu relativieren, wirkt er so emotional und ideologisch getrieben, dass er seine allseits gerühmte intellektuelle Schärfe erkennbar verliert. In der Rede bei der Verleihung seiner Ehrendoktorwürde am 27. Februar 2007 behauptete er, das Christentum habe den "Gläubigen überwiegend Gebote und Pflichten auferlegt, während die Rechte der einzelnen Personen in den heiligen Büchern kaum jemals vorkommen." Das ist schon eine erstaunlich schlichte Verdrehung der biblischen Botschaft. Auch als kirchendistanziertes Kirchenmitglied (das Schmidt immer noch ist) müsste er doch anerkennen, dass zumindest das Christentum mit seiner Freiheits- und Gnadenvorstellung des Neuen Testaments gerade nicht die Erlösung an die Befolgung eines gesetzlichen Zwangskorsetts knüpft.
Und wenn er in derselben Rede versucht, den Zusammenhang zwischen christlichen Werten und den Freiheitsrechten des Grundgesetzes zu verneinen und unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung rein säkular zu erklären, dann bewegt er sich verfassungsgeschichtlich auf dünnem Eis. Dazu sei nur der frühere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde mit seinem grundlegenden Ausspruch zitiert: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." Man muss das nicht teilen, aber dass Schmidt in seiner Rede dieses bekannte Diktum ignoriert, obwohl Böckenförde es bereits 1976, also während Schmidts Kanzlerschaft, veröffentlicht hatte, ist entweder einer anmaßenden Selbstüberschätzung, fehlender intellektueller Tiefe oder ideologischer Verblendung geschuldet.
Sicher, Schmidt hat in seinem Leben viel Kluges gesagt und viel Gutes geleistet, aber der Journalist Volker Zastrow hat Recht mit der Charakterisierung, "dass Helmut Schmidt nach Ludwig Erhard der schwächste Kanzler war, den die Bundesrepublik hatte" ("Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung", 30.10.2011). Im Gegensatz zu seinem Image, schwanke seine Bilanz "zwischen mittelmäßig und miserabel". Leider lässt Zastrow die Belege dafür vermissen.
Dabei gibt es Belege, die Zastrows These stützen: Ausgerechnet unter dem "Weltökonom" Schmidt hat sich der Bund in einem Maße verschuldet wie nie zuvor und wie auch danach nie mehr in einem ähnlichen Zeitraum: Von 1974 bis 1982 hat sich die Bundesschuld vervierfacht. Auch die Inflationsrate hat unter Helmut Schmidt traurige Höhenrekorde erlebt. Die 6,9 % in seinem ersten Regierungsjahr lassen sich noch mit der Ölkrise rechtfertigen, aber die 6,4 % in seinem vorletzten Regierungsjahr haben auch andere Gründe. Schmidt selbst hatte behauptet, das deutsche Volk vertrage "eher 5 % Inflation als 5 % Arbeitslosigkeit". Doch dann verwundert es, dass sich unter seiner Ägide die Zahl der Arbeitslosen von knapp 600.000 auf über 1,8 Millionen mehr als verdreifacht hat. Am Ende lag die Arbeitslosenquote bei 7,5 %.
Dazu passt die Inszenierung des Regelbruchs: In einer unnachahmlichen Selbstgerechtigkeit ignoriert er Recht und Gesetz, indem er öffentlich auch da raucht, wo es nicht erlaubt ist. Mag sein, dass ihm solches Verhalten so zweifelhafte Auszeichnungen wie die Wahl zum "Coolsten Kerl" (2008 im Pay-TV-Sender Premiere) eingebracht hat. Es ist trotzdem ein Schlag ins Gesicht aller, die keine medial gefragten Ex-Kanzler sind und sich an die von aktuellen Politikern gegebenen Regeln halten müssen. Wenn man bedenkt, dass der heutige Grünen-Chef Cem Özdemir vor Jahren mal wegen privat genutzter dienstlicher Flugmeilen zurücktreten musste oder soeben der Mainzer Oberbürgermeister Jens Beutel, weil er auf einer Dienstreise drei Gläser Wein an der Hotelbar nicht bezahlt hatte, dann mutet es schon eigenartig an, dass die Medien Schmidts permanenten Regelbruch nicht nur durchgehen lassen, sondern sogar hinnehmen, dass er nur unter angekündigter Verletzung des Rauchverbots in (öffentlich-rechtlichen) TV-Sendungen auftritt.
Fürs Protokoll: Auch ich finde Helmut Schmidt originell, intelligent und habe Respekt vor seiner Lebensleistung. Aber seine Überheblichkeit und die übersteigert positiven Bewertungen in den Medien sind nur schwer erträglich. (pro)
Dieser Kommentar erschien in der aktuellen Ausgabe des Christlichen Medienmagazins pro 6/2011. Das Magazin ist kostenlos und kann unter der Telefonnummer 06441/915151, via E-Mail an info@pro-medienmagazin.de oder online unter www.pro-medienmagazin.de bestellt werden.