"Heute sollte es so sein, dass ein deutscher Staatsbürger türkischer Abstammung akzentfreies Deutsch spricht", fordert Gül in dem Interview. Dies lerne man am besten im Kindergarten. Wenn Türken in Deutschland ihre Kinder nicht in den Kindergarten schickten, dann müsse man herausfinden, warum das so ist. "Das bedeutet doch Integration: die Regeln des Landes befolgen, in dem man lebt. Diesem Land dienen." Das wiederum brauche Motivation. Es mache ihn traurig, dass die Motivation manchmal ausbleibe.
Gül würdigte in dem Interview die Leistung der türkischen Gastarbeiter. Sie hätten Deutschland dabei geholfen, wieder auf die Füße zu kommen und "mit Schweiß auf der Stirn ihren Beitrag dazu geleistet, dass Deutschland einer der stärksten Wirtschaftsmächte der Welt geworden ist". Jetzt scheine dieser türkische Beitrag vergessen zu sein. Die Probleme seien in den Mittelpunkt gerückt. Dabei hätten die Türkei und Deutschland doch eigentlich ein gemeinsames Ziel: "die Integration dieser Menschen". Er wünsche sich zwischen Deutschland und der Türkei ein ähnliches Verhältnis wie zwischen Deutschland und Frankreich. "Wir sollten Regierungskonsultationen mit Deutschland haben. Das ist uns wichtig."
"Akzeptieren, dass weiterhin Menschen einwandern"
Gegenüber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" machte Gül deutlich, dass Deutschland wie die Vereinigten Staaten ein Einwanderungsland ist. "Soll diese große Wirtschaft weiter wachsen, will Deutschland also weiter ein starkes Land sein, wirtschaftlich und politisch, dann muss es akzeptieren, dass es ein Einwanderungsland ist. Diese Realität muss es anerkennen, diese Wirklichkeit muss es sehen." Ähnlich äußerte er sich gegenüber der "Süddeutschen Zeitung": "Wenn Deutschland seinen Wohlstand erhalten möchte, dann muss es doch akzeptieren, dass weiterhin Menschen nach Deutschland einwandern." Es sei eine Tatsache, dass in Deutschland die Bevölkerung schrumpft. Also entweder sage man: Ich bin ein starkes Land, ich will eine starke Wirtschaft haben. Oder: Nein, meine Wirtschaft soll ruhig schrumpfen. "Wenn man sich aber dafür entscheidet, ein starkes Land mit einer starken Wirtschaft zu bleiben, warum sollten dann drei Prozent Türken in Deutschland in irgendeiner Weise ein Problem sein?"
Andererseits sieht Gül aber in Europa die Gefahr der Islamfeindlichkeit. "Die Frage ist doch: Was ist ein moderner Staat? Für mich ist das ein multikultureller Staat", stellte er gegenüber der "Zeit" fest. "Es war Europa, das diesen modernen Staat mit seiner Demokratie und seiner Rechtsstaatlichkeit der Welt geschenkt hat. Die Theorien und ihre Umsetzungen sind ureuropäisch." Dass gerade dieses Europa eine Islamfeindlichkeit hervorbringe, empfinde er als totalen Widerspruch. "Es muss darum gehen, jeden zur Integration anzuspornen und jedermanns Kultur zu tolerieren", betonte der türkische Staatspräsident, ohne näher darauf einzugehen, wie in seinem Land mit Minderheiten umgegangen wird. Gül sagte zwar, er sei auch der Präsident seiner christlichen, jüdischen oder armenischen Landsleute. "Ich bin ihr Präsident, ich feiere mit ihnen, wenn sie ihre Feiertage haben, ich besuche ihre Gotteshäuser." Gleichzeitig räumt er aber auch ein, dass diese natürlich in der Minderheit seien. "Deshalb vergisst man sie manchmal. Aber ich vergesse sie nicht", behauptete Gül. (pro)