"Die meisten Kinder kriegen Migranten und Arbeitslose", sagte der
Präsident des Kinderschutzbundes Heinz Hilgers den Dortmunder "Ruhr
Nachrichten". Er befürchtet damit einen weiteren Anstieg der Armut.
Zudem schätzt er die wirklichen Zahlen der in Armut lebenden jungen
Menschen deutlich höher ein. Auch bezüglich der quantitativen Zahl sehe
er enorme Schwierigkeiten. Selbst bei steigenden Geburtenraten würde es
mehrere Generationen dauern, um wieder in die Nähe früherer
Geburtenzahlen zu gelangen, so Hilgers.
Laut Statistischem Bundesamt sind lediglich noch 16,5 Prozent der über 81 Millionen Bewohner jünger als 18 Jahre. Die "Stuttgarter Zeitung" bezeichnet Deutschland sogar als auf dem Weg "zum Altenheim der EU" und spricht dabei von einem "demografischen Drama". Laut Statistik gehört Schwerin zu den finanziell ärmsten Städten Deutschlands. Dort leben mehr als 35 Prozent der Kinder unter 15 Jahren, und damit 20 Prozent mehr als der bundesweite Durchschnitt, in Familien, die ihr tägliches Auskommen mit den staatlichen Zuwendungen aus Hartz IV bestreiten müssen.
Am meisten Geld ausgeben für die wenigsten Kinder
Familienpolitiker fordern und diskutieren bereits umfassende Maßnahmen. Den meisten geht es vor allem darum, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern. "Elterngeld und Betreuungsausbau alleine reichen nicht aus", sagt die SPD-Sozialpolitikerin Kerstin Griese der Zeitung "Die Welt". Notwendig seien etwa noch flexiblere Arbeitszeitmodelle als bisher – für beide Geschlechter.
Ähnlich argumentiert die familienpolitische Sprecherin der FDP, Miriam Gruß. Wichtig sei jetzt, so schnell wie möglich die familienpolitischen Leistungen zu überprüfen: "Es kann nicht sein, dass wir mit am meisten Geld ausgeben und am wenigsten Kinder haben, da muss irgendetwas schief laufen." "Paradox ist, dass der Staatssekretär, der die traurigen Zahlen präsentiert, im gleichen Atemzug deutlich macht, dass mit der Familienpolitik der Bundesregierung alles in Ordnung ist", macht der Generalsekretär der Deutschen Evangelischen Allianz, Hartmut Steeb, gegenüber pro klar.
"Der dramatische Geburtenrückgang darf weder in der Politik noch in der Kirche verschleiert werden. Wir sollten aufhören, verharmlosend von den Chancen des demografischen Wandels sprechen. Was unsere Gesellschaft braucht, sind Kinder. Wir sollten in der kirchlichen Verkündigung endlich wieder davon reden, dass Kinder eine Gabe des Herrn sind, dass das erste Wort Gottes an die Menschen ist ’seid fruchtbar und mehret euch‘ und dass Sexualität in Verantwortung ausgeübt und gelebt wird, in der verlässlichen dauerhaften lebenlangen Liebesbeziehung, der Ehe zwischen Frau und Mann", macht Steeb deutlich.
Kein hoher Stellenwert in der Gesellschaft
Doch ein aus der Balance geratendes Sozialversicherungssystem und der Fachkräftemangel ist nur die eine Seite der Medaille. Auch Elterngeld, Vätermonate und erhöhte steuerliche Kinderfreibeträge haben die Lust am Kinderkriegen nicht beflügelt. "Das Problem ist, dass Kinder keinen hohen Stellenwert in der Gesellschaft haben. Sie gehören nicht mehr zu den Zielen, die Eltern anstreben. Mit Beruf und Konsum sind dort andere Glücksfaktoren wichtig", betont der Hamburger Theologe Thies Hagge gegenüber pro. Er ist stark in der Arbeit des Kinderhilfswerkes "Arche" im Hamburger Stadtteil Jenfeld engagiert.
Das Problem der finanziellen Armut ist für ihn ein gesamtgesellschaftliches Phänomen: "Hier brauchen wir Maßnahmen, die sich direkt an die Kinder wenden. Dazu gehören eine kostenlose Schulspeisung, die Lernmittelfreiheit und vielleicht sogar die Möglichkeit, kostenlos die öffentlichen Verkehrsmittel in Großstädten benutzen zu dürfen", stellt sich Hagge vor. "Viele Angebote, die zum Beispiel Hamburg bietet, können die Kinder aus der Unterschicht gar nicht wahrnehmen", macht er deutlich.
"Bildung, Bildung, Bildung"
"Um Kinder aus der Armutsfalle zu holen, ist es ganz wichtig, Bildung, Bildung und Bildung zu vermitteln", sagt der Pressesprecher des Kinderhilfsprojekts "Die Arche", Wolfgang Büscher, im Gespräch mit pro. Ansonsten sei unser Land auf dem Weg in eine Parallelgesellschaft. "Um das Dilemma wirklich in den Griff zu bekommen, müssen wir Geld in die Hand nehmen – für Pädagogen in der Schule und vor allem für eine aufsuchende Jugendarbeit."
"Es ist tragisch, dass Reichtum nicht mehr über Kinder definiert wird, sondern nur noch über den Mammon. Wir müssen in unserer Gesellschaft wieder einen Schritt zurückgehen und uns auf ein vernünftiges Mittelmaß besinnen", mahnt Büscher. Ein wichtiger Teil der Arbeit mit den Kindern bestehe, nicht nur deswegen, auch in der Wertevermittlung. Aber auch wie die Realität aussieht, verschweigt er nicht. Im Bildungsbürgertum ist es typischerweise so, dass beide Eltern arbeiten gehen. Eltern von "Arche"-Kindern müssten dagegen teilweise drei schlecht bezahlte Jobs annehmen, um ihre Familie "am Leben" zu halten. Eine Familie im Stadtteil Hellersdorf bestehe aus einer alleinerziehenden Mutter und mehreren Kindern von unterschiedlichen Vätern.
Im Sinne der Kinder gelte es Alternativen für sie zu schaffen, wenn der Staat seine Verantwortung nicht mehr wahrnehmen könne. "Interessanterweise sind immer mehr Unternehmer und Privatpersonen bereit, Geld in die Hand zu nehmen, um in die Zukunft der Kinder zu investieren. Viele Kinder haben einfach nur die Sehnsucht nach einem normalen Leben", betont Büscher. Die traurige Realität sieht aber so aus, dass zum Beispiel in Berlin eigentlich doppelt so viele Jugendeinrichtungen nötig wären, um das Problem annähernd in den Griff zu bekommen. Dies deckt sich mit der Wahrnehmung von Thies Hagge in Hamburg: "Eigentlich bräuchte jeder Stadtteil hier eine ähnliche Jugendeinrichtung wie die ‚Arche’". (pro)