Jeder Prominente und Politiker, so Schertz gegenüber "Zeit Online", lebe heute unter einer "Dauerangst", dass jedes Fehlverhalten dokumentiert und der Weltöffentlichkeit im Internet dargelegt werde. Die Verbreitung von Fotohandys führe zu "einer potenziellen Dauerkontrolle des Individuums, 24 Stunden am Tag". Das Leben sei dadurch "ungemütlicher" geworden, und die Gesellschaft müsse sich fragen, wie es um den Schutz des Individuums im Zeitalter des Web 2.0 bestellt sei.
"Die Verletzung der persönlichen Ehre hat in den letzten fünf Jahren dramatisch zugenommen", erklärte Schertz. Er kritisierte ein Urteil des Bundesgerichtshofs, wonach Lehrer es hinnehmen müssen, auf dem Portal "spickmich.de" von ihren Schülern bewertet zu werden, etwa in den Kriterien "fachliche Kompetenz" und "größter Sexappeal". Das Urteil halte er für "eine komplette Fehleinschätzung der Meinungsfreiheit", der Weg zu Mobbingseiten, auf denen Schüler einander fertigmachen, sei nicht weit. "Es gibt Berichte über Schüler, die Selbstmord begangen haben, nachdem sie digital gemobbt wurden" (pro berichtete).
Auswirkungen auf nahezu alle Menschen
"Normale Lehrer und Ärzte können an die Öffentlichkeit gezerrt werden", sagte Schertz auf die Frage, wie Bewertungsportale im Web das Leben verändern. "Internetseiten entstehen, auf denen Gewerbetreibende nicht nur kritisch beurteilt, sondern schlicht diffamiert werden. An die Urheber kommt man nicht ran", so der erfahrene Jurist. "Manchmal sind es aufgebrachte Kunden, die sich schlecht behandelt fühlen – oder Konkurrenten. Das erleben wir zunehmend."
Das Problem dabei sei die Anonymität des Internets, die es ermögliche, Verleumdungen, Beleidigungen oder gar intime Fotos eines Expartners zu veröffentlichen, ohne dabei seine eigene Identität preisgeben zu müssen. Bei Internetseiten wie "GuttenPlag", auf denen Plagiatsfälle aufgedeckt werden, sei die Anonymität der Verfasser "ein wenig unsportlich", findet Schertz. "Ich verstehe schon die Angst, verklagt zu werden. Aber das ist eben Teil unserer Streitkultur, dass ich meinen Kopf hinhalte, wenn ich über einen anderen etwas behaupte." Projekte wie "Guttenplag" hätten jedoch "eindeutig verdienstvolle Seiten", da sie "zur Entlarvung der politischen Klasse und ihrer Selbstinszenierung" beigetragen hätten.
Selbst Pfarrer werden online benotet
Auch Geistliche müssen sich inzwischen im Internet bewerten lassen. Auf "Hirtenbarometer.de" können Kirchgänger ihre Pfarrer, Pastoren und Kardinäle bewerten – bis hin zum Papst. Die Bewertungskriterien: Gottesdienst, Glaubwürdigkeit, "Am Puls der Zeit", Jugend-Arbeit und Senioren-Arbeit. Am häufigsten wird das Bewertungsprofil von Papst Benedikt XVI. aufgerufen, gefolgt von Margot Käßmann. "Auch pastorale Arbeit muss ihre Qualitäten haben" sagte Fabian Ringwald, evangelischer Informatiker aus Karlsruhe und Initiator der Website, auf "Spiegel Online". Viele Gläubige würden ihre Pfarrer aus Angst oder Respekt nicht ansprechen, wenn sie etwas zu kritisieren hätten.
Während aus der katholischen Kirche überwiegend kritische Stimmen zu dem Onlineportal zu vernehmen waren, sehen führende Vertreter der Evangelischen Kirche hier eine Möglichkeit zum Dialog. Landesbischof Johannes Friedrich beispielsweise hofft, dass das Internet Kirchenbesuchern hilft, ihre Scheu abzubauen: "Pfarrer müssen sich der Kritik genauso stellen wie andere Berufsgruppen." Diese Kritik dürfe natürlich nicht beleidigend ausfallen.
"Wir haben eine humanistische Tradition, die besagt, dass im Mittelpunkt des Rechts der Mensch steht, nicht die Medien und das Internet", sagte Christian Schertz der "Zeit". Sein Wunsch: "Die Menschenwürde ist das höchste Gut. Das müssen Politiker und Richter wieder stärker beherzigen." (pro)