"Die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland ist ohne Religion nicht vorstellbar. Denn nach den Erfahrungen des Dritten Reiches war das christliche Engagement und das christliche Wertesystem der Ausgangspunkt für das Grundgesetz", erklärte Beckstein am Montagabend in Gießen.
"Es ist nicht nur so, dass die Religion die Politik beeinflusst, sondern manchmal ist es auch umgekehrt, dass Politik die Religion beeinflusst", so Beckstein. "Es ist originär christlicher Substanz, dass es die Aufgabe aller staatlichen Macht ist, die Menschenwürde zu schützen – allerdings hat sich das Christentum durch die Aufklärung verändert." Aber auch im modernen Christentum sei die Menschenwürde der zentrale Inhalt der christlichen Botschaft, und zwar als Folge dessen, dass der Mensch Gottes Ebenbild sei. "Dass jeder Mensch dieselbe Würde hat, der Schwerstbehinderte wie der Olympiasieger, und dass der Bundespräsident nicht mehr Menschenwürde hat als der Landstreicher – das ist eine wunderbare Botschaft", findet Beckstein, "und die Würde des Menschen ist oberste Aufgabe aller staatlichen Gewalt."
Religion hat auch im säkularen Staat Bedeutung
Günther Beckstein war von 1993 bis 2007 Innenminister in Bayern. Danach war er für gut ein Jahr Ministerpräsident des Bundeslandes. In seinen Ämtern habe ihm der Gedanke, dass er nicht selbst der Allerhöchste sei, sondern dem Allerhöchsten verantwortlich, sehr geholfen. Die These "Je moderner ein Land, desto weniger Bedeutung hat die Religion" würde zuweilen von Kirchen als Ausrede für eine sinkende Reichweite und den Anstieg von Kirchenaustritten genutzt, erklärte Beckstein. Dabei säkularisierten sich die Kirchen oft selbst. "Wenn wir sehen, dass Sekten wie Scientology an Einfluss gewinnen, oder der Dalai Lama als Popstar gefeiert wird, oder wie die Freikirchen in den USA wachsen – dann stimmt die These nicht, dass Modernität automatisch zur Säkularität führt."
Nach seinem persönlichen Eindruck werde die evangelische Kirche häufig von der Politik beeinflusst, wo es doch eigentlich umgekehrt sein sollte, dass nämlich die Kirche größer als die Politik sei, aber auch selbst durch Stellungnahmen zu politischen Themen Einfluss nehme. Dieses Missverhältnis sei ein Ausdruck der Selbstsäkularisierung, den auch der Papst in seinen Büchern kritisiere.
"Ich habe immer versucht, als evangelischer Christ in der Politik tätig zu sein. Aber die Aufgaben sind unterschiedlich", sagte Beckstein über seine eigene Karriere. Ein Innenminister könne nicht immer so entscheiden, wie es ein Pfarrer tun würde. Als Beispiel nannte Beckstein unter anderem eine Lehrerin, die eine schlechte Klassenarbeit auch dann mit einer schlechten Note bewerten muss, wenn sie weiß, dass das Kind dafür zu Hause verprügelt werde.
Der 1943 geborene Beckstein ist Vizepräses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland. Über seine Arbeit dort sagte er: "Wir beschäftigen uns seit neuestem wieder mit der Frage der inneren Mission – echter missionarischer Tätigkeit. Wir hatten das als Thema der letzten Landessynode und der nächsten EKD-Synode – die Unterschiede sind spannend. Bei der Landessynode in Bayern hatten wir Ulrich Parzany als einen Spezialisten für Evangelisation zu Gast." Bei der Synode der EKD hingegen gebe es noch Streit, wie mit anderen Religionen umzugehen sei. Es sei vorgeschlagen worden, einen Muslim einzuladen und ihn über Dinge sprechen zu lassen, die ihn an den Christen stören. "Mein Gegenvorschlag war es, einen zum Christentum konvertierten Muslim als Redner zu nehmen, was auf empörte Ablehnung gestoßen ist", so Beckstein. Er werde den Vorschlag aber erneut zur Abstimmung stellen.
Der türkische Islam und die deutsche Politik
Die deutsche Leitkultur setze sich aus dem Christentum, den jüdischen Wurzeln des Christentums, der Aufklärung und dem Humanismus zusammen, sagte Beckstein. "Am Islam in Deutschland sehen wir, welchen Einfluss religiöse Vorstellungen auch auf die Politik haben. Die politischen Vorstellungen vieler Migranten hängen eng mit ihren religiösen Überzeugungen zusammen", so der Politiker. Selbst die demokratischen Muslime hätten in hohem Maße ein Frauenbild und eine Meinung über Homosexuelle, die sich vom Grundgesetz unterscheiden würden. Der Islam sei daher nicht geeignet, unsere Rechtsordnung mitzuprägen. Der türkische Islam versuche, die politische Situation mitzubeeinflussen, sagte Beckstein mit Blick auf die Rede des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan im Februar in Düsseldorf.
Religionsfreiheit weltweit schützen
Beckstein machte in seinem gut 90-minütigen Vortrag mit anschließender Fragerunde deutlich, dass die Religionsfreiheit der Muslime in Deutschland nicht davon abhängig sei, ob Christen in islamischen Ländern die gleichen Rechte und Freiheiten gewährt würden. "Aber ich halte es für selbstverständlich, dass wir Christen auf die Defizite in diesen Ländern hinweisen und auch verlangen können, dass die bei uns lebenden Muslime sich deutlich artikulieren und sagen, dass es ein Skandal ist, dass Christen in der Türkei immer noch nicht die gleichen Rechte wie die dortigen Muslime haben", erklärte er. Bundeskanzlerin Merkel habe hierzu deutlich Stellung bezogen, ebenso wie Unionsfraktionschef Volker Kauder, der sich in einer "mustergültigen Weise" für benachteiligte und verfolgte Christen einsetze und dazu bereits eine Reise in die Türkei unternommen habe. (pro)