Warum wurde die Heilige Schrift der Christen erst relativ spät
schriftlich festgehalten? Auf diese Frage findet der katholische
Theologe Frank Ochmann in dem "Stern"-Artikel mehrere Antworten. Eine
liegt in der Verfolgungssituation der ersten Christen: "Nach dem
Kreuzestod Jesu – vermutlich im April des Jahres 30 unserer Zeitrechnung
– dauert es eine ganze Weile, bis überhaupt irgendetwas Greifbares über
den ‚König der Juden‘ niedergeschrieben wird. Wozu auch? Römer und
Juden sind der seltsamen neue Sekte eher feindlich gesinnt. Jedes
Schriftstück kann zum tödlichen Beweis werden."
Einen weiteren Grund sieht der "Stern"-Redakteur darin, dass die meisten Mitglieder der ersten Gemeinde Jesus noch persönlich erlebt hatten. "Schon deshalb brauchen sie nichts Schriftliches. Sie haben gehört, was er predigte, sind mit ihm in den wenigen glücklichen Jahren vielleicht um den See Genezareth gezogen. Sie haben mit dem Nazarener gegessen und gefastet, gelacht und geweint. Auch nach seinem Tod ist ihr Meister so lebendig in ihren Herzen, dass es keine Schriften braucht, um sich seiner zu erinnern. Er ist doch sogar von den Toten auferstanden, so glauben die ersten Christen fest."
Eine neue heilige Schrift hätten Jesu Nachfolger auch nicht gebraucht, fügt Ochmann hinzu. "Denn sie haben ja eine: das mosaische Gesetz und die alttestamentlichen Propheten. Schließlich sind sie Juden, so wie Jesus Jude war. Nichts sonst. Noch nicht." Hinzu komme die Erwartung der frühen Gemeinde, dass Jesus noch zu Lebzeiten ihrer meisten Mitglieder wiederkommen werde.
Der Katholik widmet sich überdies den archäologischen Funden Ende des 19. Jahrhunderts, als in Ägypten zahlreiche Handschriften mit Texten aus dem Neuen Testament entdeckt wurden. Heute ist die gesamte diesbezügliche Forschung im "Novum Testamentum Graece" zusammengefasst – dieses Neue Testament in griechischer Sprache weist auf abweichende Lesarten in anderen Manuskripten hin.
Auch auf die sich voneinander unterscheidenden Darstellungen der vier Evangelien geht Ochmann ein und fragt: "Konnte es gleich vier Wahrheiten, vier Lebensläufe geben?" Er kommt zu dem Schluss: "Geschichtsschreibung nach unserem heutigen Verständnis war nicht das Ziel. Und zeigte der eine Text Juden, wie sehr sich die Weissagungen ihrer verehrten Propheten in Jesus erfüllt hatten, so machte ein anderer den Griechen oder Römern deutlich, wie nah die eine neue Botschaft von der Liebe Gottes und vom ewigen Leben in seinem Reich auch ihrem ganz eigenen philosophischen Verständnis kommen konnte." Der Theologe betont in seinem Artikel, dass trotz einer mit der christlichen Bibel begründeten Judenfeindschaft der alte mosaische Glaube niemals völlig abgestoßen worden sei.
In den kommenden Folgen der Serie "Die heiligen Schriften" stellt der "Stern" noch das "Tripitaka" des Buddhismus und die "Veden" des Hinduismus vor. (pro)