pro: Herr Stolte, Sie sind vor wenigen Tagen aus Pakistan zurückgekehrt. Wegen der Flutkatastrophe sind dort Millionen Menschen obdachlos, mehr als 1.500 sind bisher durch das Unglück gestorben. Wie haben Sie die Verhältnisse in Pakistan erlebt?
Udo Stolte: Die Menschen haben alles verloren. Ein großer Teil des Landes ist überschwemmt. Die Pakistaner haben sich zum Teil auf die etwas höher gelegenen Straßen gerettet und campieren dort auf der Autobahn oder mehrspurigen Überlandstraßen. Das ist wahnsinnig gefährlich, aber wo sollen die Menschen sonst hin, wenn alles andere überflutet ist? Die stabileren Häuser sind innen total zerstört. Die Menschen leben in und auf den Trümmern. Unterkünfte aus Lehm sind völlig weggeschwemmt worden. Kinder und alte Menschen sind in den Fluten ertrunken. Es war erschütternd, als die Pakistaner, an die wir dort Nahrungsmittelpakete verteilt haben, uns das in gebrochenem Englisch oder gar in Zeichensprache erzählt haben. Und die Situation der Menschen dort wird nicht besser. Viele haben kein Trinkwasser mehr, die Flut hat auch Brunnen und Flüsse überschwemmt und verseucht.
Haben Sie schon einmal eine solche Katastrophe erlebt?
Nein, diese hier ist weit schlimmer, als ich es mir vorgestellt habe und verheerender, als ich es, ausgehend von den Fernsehbildern, erwartet habe. Wir arbeiten seit 27 Jahren in Pakistan. Auch nach dem Erdbeben im Jahr 2005 waren wir als eine der ersten Organisationen vor Ort. Dieses Unglück war schrecklich, mindestens 80.000 Menschen sind umgekommen, die Toten lagen unter Trümmern begraben, uns umgab ein permanenter Verwesungsgeruch. Bei der jetzigen Flut gab es bei weitem nicht so viele Tote, aber 20 Millionen Menschen sind ohne Obdach und Versorgung. Das ist weit verheerender als alles, was ich bisher erlebt habe. Der Tsunami 2005 zum Beispiel hat viel mehr Menschenleben gefordert – 300.000 ungefähr – aber die Toten zu beklagen ist eine Sache. Wir müssen an die Überlebenden denken. Ich kann mich an keine Katastrophe erinnern, bei der so viele Menschen auf Hilfe angewiesen waren.
Bisher ist das Spendenaufkommen für die Opfer der Flutkatastrophe verhältnismäßig gering. Woran liegt das?
Es kommt tatsächlich wenig Hilfe an. Länder wie Pakistan oder auch Afghanistan gelten als korrupt. Das wissen die Spender hierzulande. Sie können nicht einschätzen, ob ihr Geld ankommt, in irgendwelchen Kanälen versickert oder am Ende gar den Taliban zu Gute kommt. Auch die betreiben Hilfsorganisationen, verfolgen aber vor allem das Ziel, die Regierung zu schwächen. In andere Gebiete, etwa die Regionen des Indischen Ozeans, die 2005 vom Tsunami heimgesucht wurden, wird mehr Geld gespendet – Pakistan ist eben im Gegensatz dazu kein Urlaubsland. Die Menschen wissen um den ausgeprägten Islamismus dort und fragen sich: Warum soll ich den Extremisten dort helfen? Das ist natürlich Quatsch. Die Menschen dort sind als Moslems aufgewachsen, aber die allermeisten sind nicht extremistisch und wollen mit den Taliban nichts zu tun haben.
Die Taliban haben ihre Landsleute in Pakistan in der vergangenen Woche sogar dazu aufgerufen, keine Hilfe von Christen anzunehmen und im Gegenzug versprochen, Unsummen zu spenden.
Ja, die Taliban haben ihre Geldquellen. Wenn wir nicht helfen, tragen wir dazu bei, dass sich Pakistan weiter radikalisiert. Wenn die Bewohner Pakistans merken, dass der Westen nicht hilft, wenden sie sich womöglich den Taliban zu. Damit steigt auch die Gefahr eines Putsches. Es ist nicht auszumalen, was geschieht, wenn die Taliban die Macht übernehmen. Wir alle wissen, dass Pakistan die Atombombe besitzt. Was wir dort tun oder nicht tun, hat auch Auswirkungen auf unsere eigene Sicherheit. Wir haben keine andere Wahl und keine Chance, das Land zu stabilisieren, als zu helfen. Im übrigen verbessert das auch das Bild, das die Einwohner von Christen haben. Wenn wir als christliche Organisation ins Land gehen, bemerken die Menschen plötzlich: Die sind gar nicht so böse, wie die Taliban uns weis machen wollen, im Gegenteil. Nach dem Erdbeben 2005 haben sie zum Beispiel gesagt: Die Christen helfen anders, sie werfen nicht nur Hilfsgüter ab, sondern beschäftigen sich mit den Menschen. Schon deshalb dürfen wir Pakistan, aber auch Afghanistan nicht verlassen!
Erst vor wenigen Wochen wurden zehn Mitarbeiter einer christlichen Organisation in Afghanistan getötet, unter ihnen war auch die Deutsche Daniela Beyer. Die Taliban haben sich zu dem Überfall bekannt. Fürchten Sie sich vor einem solchen Verbrechen an ihren Mitarbeitern?
Gefahrenpotential gibt es in Pakistan auch – der Staat gilt sogar als der gefährlichste der Welt. Die Taliban ziehen sich nach Pakistan zurück, haben dort ihre Netzwerke und Verbindungen. Dort werden sie nicht von den ausländischen Truppen verfolgt, anders als in Afghanistan. Dort kann nur die pakistanische Armee tätig werden. Deshalb gehen wir in bestimmte Gebiete des Landes nicht. Unsere Mitarbeiter vor Ort sind erfahren und kennen die Gefahren in beiden Ländern. Passieren kann immer etwas, aber wir achten darauf, uns nicht in unnötige Gefahren zu begeben.
Wenn Christen in islamischen Ländern helfen, wird ihnen von deutschen Medien schnell Missionierung vorgeworfen…
Das ist ein Knopf, der schnell gedrückt wird. Die Medien leben von Quote und Auflage und bedienen ihre Zielgruppe. Deshalb wird vieles nicht wertneutral wiedergegeben. Das grenzt teilweise an Zensur. Was nicht als politisch korrekt gilt, wird kaum gedruckt und gesendet, nicht einmal als Zitat. Man hat Angst vor massiven Reaktionen bis hin zu Bombendrohungen.
Hat IAM missioniert?
Wenn etwas passiert, steht der Missionierungsvorwurf schnell im Raum. Das wissen auch die Terroristen. Die International Assistance Mission (IAM), deren zehn Mitarbeiter in Afghanistan getötet wurden, kenne ich gut. Dass IAM für die USA spioniert haben soll, wie es die Taliban formuliert haben, ist absolut lächerlich. Und was heißt eigentlich Missionierung? Beginnt sie schon da, wo ich auf Anfrage zu meinem Glauben stehe? IAM war 40 Jahre in Afghanistan. Die Mitarbeiter sind sehr erfahren und wissen genau, wie sie sich da zu verhalten haben. Sie haben nicht missioniert, aber standen zu ihrem Glauben. Es geht auch gar nicht anders. Afghanistan ist ein höchst religiöses Land. Da werden ausländische Helfer ständig nach ihrem Glauben gefragt.
Wo ziehen Sie die Grenze? Wieviel Mission ist erlaubt?
Es ist ethisch verboten, Hilfeleistungen mit Glaubensüberzeugungen manipulativ zu verquicken, nach dem Motto: Hilfe und Jesus gibt es bei uns nur im Doppelpack. Wenn wir oder Mitarbeiter anderer christlicher Organisationen aber gefragt werden, stehen wir natürlich zu unserem Glauben. Niemand tritt dort durch aggressive Missionierungsversuche auf. Kreuzsymbole vermeiden Christen in Afghanistan, um nicht zu provozieren. Ich sage auch nicht, dass ich Christ bin, sondern ich nenne mich einen Nachfolger von Jesus. Damit können Muslime mehr anfangen. Es ist auch eine bessere Beschreibung unserer Überzeugung.
Erschwert die teilweise aggressive Medienberichterstattung ihre Arbeit?
Ja. Ich sehe die Morde in Afghanistan zum Teil als Folge der Medienberichterstattung im Land. Im Juni, also während der Friedens-Dschirga…
…bei der nach einer Möglichkeit für eine Aussöhnung mit den Taliban gesucht wurde…
…hat ein einheimischer, inzwischen als unseriös entlarvter Sender, Noorin TV, über Afghanen berichtet, die in einheimische christliche Gottesdienste gegangen sind. Darauf folgte eine wahre Christenhatz. So werden Christen zum Spielball der Medien. Christliche Organisationen in Afghanistan werden seitdem mehr denn je beobachtet und deren Mitarbeiter sind einer großen Gefahr ausgesetzt.
Wie sieht es mit den deutschen Medien aus?
Viele bedienen schnell das Vorurteil, christliche Helfer seien selbst Schuld, wenn ihnen etwas geschehe, da sie ihren Glauben verbreiten wollen. Solche Gerüchte zu verbreiten, kann großen Schaden hervorrufen und die Organisationen in Misskredit bringen. 2001 haben wir das selbst erlebt. Noch vor 9/11 haben die Taliban Mitarbeiter von uns festgenommen, weil sie angeblich missioniert haben sollen. Die westlichen Medien haben das aufgegriffen und uns Missionierung vorgeworfen. Am Ende stellte sich heraus, dass unsere Mitarbeiter durch eine Falle in Gefangenschaft geraten waren. Eine Familie hatte sie genötigt, mit ihnen einen Film über Jesus zu schauen. Dem haben zwei unserer Mitarbeiter nach langem Hin und Her zugestimmt. Als unsere Mitarbeiter das Haus der Familie verließen, standen die Taliban schon vor der Tür, um sie festzunehmen. Kurze Zeit später haben die Taliban weitere 22 unserer Mitarbeiter inhaftiert. Die Medien haben sich daraufhin auf mich gestürzt und versucht, uns in eine rechte fundamentalistische Ecke zu rücken. Dieses Bild war nicht lange aufrecht zu erhalten, weil es natürlich nicht den Tatsachen entsprach. Dennoch haben wir lange unter der Berichterstattung gelitten. In den ersten fünf Wochen danach haben wir keinen Cent mehr eingenommen. Als die Medien begannen, wieder neutraler über uns zu berichten, kamen wieder Spenden rein.
Wie können Medien und christliche Werke besser zusammenarbeiten?
Seit der Krise 2001 geben wir regelmäßig Pressemitteilungen heraus und informieren Interessierte auf unserer Internetseite besser über uns. Wir treten also in Vorleistung, damit ein Journalist, der beim Recherchieren auf unsere Internetseite gelangt, schon einmal etwas in der Hand hat. Ich empfehle allen christlichen Organisationen, aktiv Medienarbeit zu betreiben. Von vielen Journalisten wünsche ich mir im Gegenzug, dass sie mehr Rückgrat zeigen und nicht nur auf die Quote oder Auflage schielen. Ich wünsche mir eine faire und vielseitige Berichterstattung und ein Ende der Selbstzensur. Ich wünsche mir, dass Journalisten sich neu fragen: Ist Mission tatsächlich ein Verbrechen? Und was ist eigentlich genau darunter zu verstehen? Ist die christliche Lehre so verwerflich, dass man sie nicht verbreiten darf? Die UN-Menschenrechtscharta besagt zumindest, dass jeder Mensch auf der Welt das Recht haben muss, seine religiöse Überzeugung zu vertreten und zu verbreiten. Das gilt für Muslime genauso wie für Christen. (pro)
Die Fragen stellte Anna Wirth