Mehr als 12 Millionen Deutsche haben das erste WM-Spiel ihrer Nationalmannschaft bei Public Viewing-Veranstaltungen verfolgt. Damit setzt sich ein Trend fort, der in Deutschland bei der WM 2006 seinen Anfang fand. Doch was bringt Fußballbegeisterte dazu, sich in Massen zu versammeln, statt gemütlich im Wohnzimmer zu schauen? Robert Gugutzer, Professor am Institut für Sportwissenschaften der Frankfurter Goethe-Universität, glaubt, eine Antwort auf diese Frage zu haben. Er sieht Public Viewing als Ersatzreligion.
So hätten die Großveranstaltungen eindeutig religiöse Züge, sagt der Sportsoziologe der "Frankfurter Rundschau": "Diese Massenveranstaltungen zeigen, dass bei aller Individualisierung des sozialen Lebens die Menschen offenkundig weiterhin ein Bedürfnis nach Gemeinschaft und kollektiver Zugehörigkeit haben." Sie seien ein Ersatz für erodierende traditionelle Bindungen an Großgruppen wie Verwandte, Dorfgemeinschaften, Arbeitermilieus oder Kirchenreligionen.
"Sonderwelt mit eigenen Insignien"
Public Viewing vermittle ein neues Wir-Gefühl. Letztendlich sei es eine Sonderwelt mit eigenen Insignien: Schals, Fahnen, Deutschlandfarben im Gesicht. Das alles erinnert Gugutzer an religiöse Symbolik. "Das gemeinschaftliche Ziehen zum Versammlungsort, die Gesänge – das unterscheidet sich nicht groß von Wallfahrts-Prozessionen." Religion habe immer etwas mit Transzendenz und so auch mit Grenzüberschreitungen "in eine Gegenwelt zum Alltag" zu tun, sagt der 43-Jährige.
Gugutzer bezeichnet den Trend zum öffentlichen Fußballschauen auch als Teil einer "Festivalisierung des Alltags". Diese geschehe auch beim Karneval oder dem christlichen Weltjugendtag. "Alle wollen etwas Emotionales erleben. In der Gruppe steckt man sich an. Da potenziert sich Freude oder auch Trauer", sagt der Soziologe. Doch auch ein ganz anderer Grund ziehe besonders junge Menschen zu großen Übertragungsorten: Public Viewing sei letztendlich auch eine Kontaktbörse für Singles. (pro)