"Ich bin ein sehr distanzierter Christ", gib Schmidt zu, der von 1974 bis 1982 Kanzler der Bundesrepublik Deutschland war. Doch habe er noch nie vorgehabt, aus der Kirche auszutreten, auch nicht aufgrund von Krisen oder wegen einzelner Personen. "Eine menschlich und politisch bedeutsame Entscheidung aus einem ärgerlichen Anlass zu treffen, das ist eigentlich nicht meine Art." Er ist überzeugt, "dass Religionsführer – egal, ob katholisch oder evangelisch, buddhistisch oder muslimisch – menschliche Wesen sind wie Sie und ich; und dass der Anteil von Leuten mit einem kleinen charakterlichen Defizit unter ihnen genauso groß ist wie unter uns gewöhnlichen Menschen ohne religiöses Amt".
Die Missbrauchsfälle seien in seinen Augen "Auslöser für die Austritte, nicht deren Ursache". Eine zunehmende Distanzierung von der Kirche habe es schon vorher gegeben, so Schmidt. Die gestiegene Zahl von Kirchenaustritten überrasche ihn daher nicht. Schmidt stellt fest: "In Westeuropa haben wir es seit der Französischen Revolution mit einer schrittweisen Säkularisierung zu tun. Ich glaube, dass sich dieser Prozess im 21. und auch im 22. Jahrhundert fortsetzen wird."
"Zwei Gebete, die mir zu Herzen gehen"
Er selbst bete nicht, gibt der Altkanzler zu verstehen. "Ich habe vielleicht äußerlich mitgebetet, aber innerlich nicht. Es gibt allerdings zwei Gebete, die mir zu Herzen gehen. Das eine ist das Vaterunser, von Kindheit an, und das andere ist ein Gebet, das der amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr formuliert hat, das Gelassenheitsgebet, Sie kennen es, ich habe es Ihnen schon einmal erzählt…
‚Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, / den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, / und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.‘ Das würde ich aus vollem Herzen mitbeten."
Auf die Frage, warum er dann immer noch in der Kirche sei, antwortet Schmidt: "Weil Traditionen nützlich sind. Die Kirchen gehören zum Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält." Auch in Bezug zur Frage, ob Kruzifixe in staatlichen Schulen hängen sollten, verweist der "Zeit"-Herausgeber auf die Tradition: "Das Festhalten an alten Traditionen ist etwas Heilsames. Wenn es in einem Dorf Tradition ist, dass ein Kreuz im Klassenzimmer hängt, würde ich es um Gottes willen dort lassen, solange niemand Anstoß daran nimmt."
Religion habe weiter eine politische Bedeutung in Deutschland. "Und diese Bedeutung wird sie auch behalten, allerdings weniger in den säkularisierten Staaten Europas." Die Bundesrepublik sieht er zwar "offiziell" als säkularen Staat. "Tatsächlich etwas weniger." Das sehe man etwa daran, dass der Staat die Kirchensteuer eintreibe, oder daran, "dass für Personen, die an der Spitze des Staates gestanden oder in der Politik eine gute Rolle gespielt haben, Totenfeiern in einer Kirche abgehalten werden". Zudem werde Gott in der Präambel des Grundgesetzes erwähnt, und der im Grundgesetz festgeschriebene Amtseid enthalte die Formel "So wahr mir Gott helfe".
Dass gleich zwei Parteien in der Gründungsphase der Bundesrepublik das C in ihrem Namen aufnahmen, habe er "als einen überaus erfolgreichen taktischen Kunstgriff von damals führenden Politikern" empfunden. Gleichzeitig sei damit die SPD als gottlos abgestempelt worden. "Das war eine ziemlich gottlose Verdächtigung, die leider eine Zeit lang gewirkt hat. Heutzutage würde sie nicht mehr wirken." (pro)