"Musik heilt", war eine Grundlehre der Hildegard von Bingen, die von 1098 bis 1179 lebte. Und auch, dass sie bereits früh erkannte, dass verschiedene Kräuter verschiedene Heilkräfte haben können, fällt den meisten ein, wenn sie ihrem Namen begegnen. Die Katholische Kirche machte Hildegard von Bingen zu einer ihrer "Heiligen" – was protestantische Gemüter dazu bewegen könnte, ihren Einfluss auf die – damals noch eine – Kirche zu verkennen. In jedem Fall war sie mehr als eine Kräuterhexe, die einige Lieder komponierte. Dass sie eine starke Frau war, die sich von Gottes Kraft geleitet wusste und sich auch nicht durch weltliche Widrigkeiten abbringen ließ, zeigt der Film "Vision – Aus dem Leben der Hildegard von Bingen".
Regisseurin Margarethe von Trotta, die 1995 für ihren Film "Das Versprechen" für einen Oscar nominiert worden war, schafft das, was fürs Kino das Wichtigste ist: Sie entführt für kurze Zeit in eine andere Welt. Die Schauspieler schaffen den Spagat zwischen dem für uns fremden Mittelalter mit seiner gestelzten Sprache, seinen stoffreichen Gewändern und dem Leben der Jetztzeit. Wer das bekannte Gesicht Heino Ferchs erst einmal von allen Erinnerungen an deutsche Komödien befreit hat, akzeptiert ihn irgendwann problemlos als Bruder Volmar, der Hildegard zur Seite steht und hilft, ihre "Gesichte" zu Papier zu bringen. Die Figuren sind größtenteils glaubwürdig, und es gelingt dem Zuschauer, für anderthalb Stunden in die Glaubenswelt der Hildegard von Bingen einzutauchen; doch wer danach wieder heraustritt ins Jahr 2009, hängt Gedanken nach, die über den gesehenen Geschichtsexkurs hinausgehen
Getrieben vom Wind Gottes
Hildegard von Bingen war, so will es der Film vermitteln, eine Frau, die kompromisslos auf Gott gehört hat, statt auf die weltlichen Ränkespiele oder die Wünsche nach Annehmlichkeiten, Neid und Stolz. Von Trotta belässt die Darstellung der Visionen, nach denen immerhin der Film benannt wurde, glücklicherweise in der Marginalie. "Gesichte" hatte Hildegard schon als Kind, sie begleiteten ihr Leben, doch erst im Erwachsenenalter traut sie sich, engen Freunden davon zu berichten.
Statt der Versuchung zu verfallen, daraus Kapital zu schlagen oder stolz darauf zu sein, beharrt sie darauf: Es ist eine Gabe von Gott, dazu ausersehen, die Menschen auf Gottes Weg zurück zu leiten und Weisungen zu geben. Der Abt des Klosters ist natürlich darauf aus, das Ansehen seines Stifts durch die bald europaweit bekannte "Seherin" zu mehren – auf dass die Pilger und das Geld heranströmen. Überhaupt liegen Hildegard viele Steine im Weg, menschliche Probleme, wie sie wohl in allen Generationen auftraten und -treten. Machtspiele und Kämpfe um Reichtum stehen dem einfachen, aber starken Glauben der Ordensschwestern gegenüber.
Die Früchte des Wirkens der heute weltweit bekannten Frau sind ansehnlich. In völligem Vertrauen auf den Heiligen Geist ist es ihr möglich, die Welt mit den Augen eines von Gott geliebten Menschen zu sehen. Die Natur wird nicht nur zum Abbild der Schönheit, die von Gott geschaffen und gewollt ist, sondern auch Quelle der Heilung. Für ihre Kräuterheilkunde ist Hildegard heute vor allem bekannt, aber auch als eine der ersten Wissenschaftlerinnen. Von wegen, hinter Klostermauern nur dumpfe, selbst verschuldete Unmündigkeit, und hinter der Stirn von Gläubigen dumme Unterwürfigkeit gegenüber einem kritiklos hinzunehmendem Dogma. Die Klöster waren im Mittelalter Zentren des Fortschritts, der Forschung und der Weltoffenheit. Nicht zuletzt, weil sie an die Neuigkeiten von den Forschern der ganzen Welt gelangen wollte, zog es die Äbtissin an den Rhein. Dort hatte ihr das "göttliche Licht" den Ort gezeigt, an dem sie ein neues Kloster bauen sollte.
Als Hildegard gegen Ende des Filmes aufbricht, als erste Frau nun auch noch eine Predigerreise zu unternehmen, weiß sie, dass sie erneut, wie so oft zuvor in ihrem Leben, gegen (Kirchen-) Mauern anrennen und gegen verschlossene, weltlich denkende Kirchenoberhäupter wird kämpfen müssen. Doch dem Kinozuschauer wird eine Frau gezeigt, deren Glaube an "das ewig strahlende Licht", an den "König, der die Welt aus dem Nichts gerufen hat", stärker ist als menschliche Versuche, nicht nur menschliche Maßstäbe, sondern auch Ketten anzulegen.
Der Film endet mit einem Zitat der "Heiligen": "Dem König gefiehl es, eine kleine Feder zu berühren, dass sie wunderbar emporfliege. Und ein starker Wind trug sie, damit sie nicht sinke." Und tatsächlich scheint da für einen kurzen Moment die Kraft des großen Reformators Martin Luther durch, der ein halbes Jahrtausend später den Wind, der im Leben der Hildegard von Bingen wehte, zu einem Sturm in Europa werden ließ. Dank Gottes Gnade und der Welt zum Trotz. (PRO)