„Duldsam, nachsichtig, weitherzig“. Mit diesen Begriffen versuchen die Autoren des „Duden“ das Adjektiv „tolerant“ zu umschreiben. Aber Duldsamkeit oder Weitherzigkeit gegenüber Meinungen, die der eigenen widersprechen, scheinen kein Merkmal der heutigen Gesellschaft zu sein. Jedenfalls nicht, wenn man dem Philosophen und Katholiken Robert Spaemann Glauben schenkt.
In einem Interview in der aktuellen Ausgabe der FAS sagt er, dass die heutige Gesellschaft weniger tolerant sei als noch vor einigen Jahren. Die Menschen der jetzigen Zeit seien viel eher zu sozialer Ausgrenzung von Andersdenkenden bereit als früher. „Wir sind heute an Exkommunikationen gewöhnt in unserer politischen Gesellschaft“, so der Philosoph. Den Grund sieht er in einem sich ausbreitenden „radikalen Relativismus“. Relativismus bedeutet die Verneinung einer endgültigen Wahrheit.
Heutige Diskurse seien nicht von einem Streit darüber geprägt, was eigentlich wahr sei, sondern von der Meinung derer, die die Macht haben. „Das Wahrheitskriterium hat da gar nichts mehr verloren. Nicht ob etwas wahr ist, interessiert, sondern ob man es sagen darf“, beschreibt Spaemann heutige Auseinandersetzungen.
„Auseinandersetzungen sind vom Recht des Stärkeren geprägt“
Als Beispiel für seine These dient ihm etwa die Diskussion um das Thema Homosexualität. „Ob es sich um ein pathologisches Phänomen handelt oder nicht, darüber sollte man streiten können. Aber wenn Sie die traditionelle Auffassung vertreten, die bis vor wenigen Jahrzehnten allgemein war, dann können Sie sich das kaum leisten“.
Das Phänomen der zunehmenden Intoleranz habe sich insbesondere in den letzten Jahrzehnten verstärkt. „In den fünfziger Jahren etwa gab es solche Exkommunikationen eigentlich noch gar nicht. Vor allem in deren zweiten Hälfte war nach meinem Erleben die Meinungsfreiheit in unserem Land die größte. Sie konnten Stalinist sein, Sie konnten marxistische Überzeugungen vertreten, Sie konnten fast alle Meinungen äußern“, erinnert Spaemann im Gespräch mit der FAS.
Heutige Diskurse seien dagegen von einem „Recht des Stärkeren“ geprägt. Spaemann spricht in diesem Zusammenhang von einer „Regulation durch das Konventionelle, das auch im Interesse derer ist, die gerade die Macht haben“.
Robert Spaemann ist emeritierter Professor für Philosophie. Im Jahr 2007 hatte er mit seinem Buch „Der letzte Gottesbeweis“ für Aufsehen gesorgt, in dem er versucht, die Existenz Gottes zu beweisen. Einen ähnlichen Inhalt hat sein Titel „Das unsterbliche Gerücht“, das im selben Jahr erschien. „Da begegnet der verblüffte Leser einem alten Bekannten, der längst vom Zweifel der Moderne zermalmt schien: einem Gott, der den Tod besiegt. …“, hatte der „Spiegel“ darüber geschrieben. (PRO)