Schon unter dem Regime des Diktators Saddam Hussein wurden Christen im Irak diskriminiert. Doch was sich seit der Niederschlagung der Diktatur 2003 an Verfolgung von nichtmuslimischen Minderheiten abspielt, alarmiert immer mehr die europäische Öffentlichkeit. Etwa 4,5 Millionen Iraker sind in den vergangenen Jahren vertrieben worden – das ist etwa ein Fünftel der gesamten irakischen Bevölkerung. Rund 10 Prozent dieser Flüchtlinge, also etwa 200.000 Personen, sind Mitglieder nichtmuslimischer Minderheiten. 90 Prozent davon sind Christen. Den größten Anteil daran haben Mitglieder der chaldäisch-katholischen Kirche. Das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR warnt, dass in den Flüchtlingslagern bereits zwei Millionen Flüchtlinge unter schwierigsten Bedingungen lebten. Wegen steigender Lebensmittelpreise drohe die völlige Verarmung.
Experten befürchten, dass diese Fluchtbewegung ins Ausland dazu führen könnte, dass diese Religionsgemeinschaften in ihrer historischen Heimat völlig ausgerottet werden. Dabei handelt es sich um urchristliche Gemeinden mit einer fast 2.000-jährigen Geschichte. Viele der irakischen Christen beten noch heute auf Aramäisch, in der Sprache Jesu.
Erpressung, Entführung, Mord
„Die Welt“ schrieb am Dienstag: „Die Liste der Gräueltaten gegen Christen im Irak ist lang: Schutzgelder werden erpresst, Läden geplündert, gebrandschatzt und enteignet, Kirchen in die Luft gesprengt, Mädchen vergewaltigt und zwangsislamisiert, Priester enthauptet oder gekreuzigt. (…) Die meisten irakischen Christen verlieren mit ihren Wohnungen und Häusern auch ihr gesamtes Vermögen und können so nicht einmal das Geld für die Flucht aufbringen.“
Zu den religiösen Minderheiten im Irak gehören neben armenischen, chaldäischen und syrischen Christen auch die Glaubensgemeinschaften der Jesiden, Mandäer und Bahais. Seit Beginn des Irak-Kriegs vor fünf Jahren hat die Hälfte der etwa 1,5 Millionen Christen das Land verlassen.
Schon vor dem Einmarsch der US-Truppen galten die Christen als Kollaborateure der Besatzer. Der 27-jährige Iraker Batrus Mikha, der nach Deutschland flüchtete, berichtet in der „Welt“: „Wir mussten auf Kreuze springen, die muslimische Kinder mit Kreide auf den Boden gemalt hatten. Wir wurden wegen unseres Glaubens gehänselt und ausgegrenzt. (…) Nach einer Freitagspredigt wurde ein Christ erstochen, dann begann die Hetze gegen Christen in der Stadt. ‚Kauft nicht bei Christen!‘, hieß es schon bald.“ Schon Anfang der 90er-Jahre habe es Christenpogrome gegeben, christliche Geschäfte mussten schließen. Mikhas Familie reiste 1998 nach Deutschland aus, nach eineinhalb Jahren wurde ihr Asylersuchen anerkannt. Rund 75.000 Iraker leben in Deutschland, viele kamen nach dem Giftgasangriff Saddams 1992 und nach der Kuwait-Invasion 1993. Mehr als 10.000 davon sind Christen.
Ethnische Säuberungen gegen Christen im Dienste des Islam
Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber, spricht von einem „Völkermord“ und „ethnischen Säuberungen“ an Christen im Irak. In seiner Karfreitagspredigt prangerte Huber an, dass dies von der Weltöffentlichkeit tatenlos wahrgenommen werde. Er fügte hinzu: „Es ist auf beklemmende Weise grotesk, dass sie unter der Herrschaft des Diktators Saddam Hussein besser lebten als unter dem Protektorat der amerikanischen Schutzmacht.“ Der EKD-Ratsvorsitzende erinnerte an das Schicksal des chaldäisch-katholischen Bischofs Paulos Faradsch Rahho, der Ende Februar in der nordirakischen Stadt Mossul verschleppt und später tot aufgefunden wurde.
Von brutalen Praktiken gegen Christen berichtet auch Paul Tiedemann, der Richter am Verwaltungsgericht Frankfurt am Main ist und auf Einladung des Katholischen Missionswerk Missio letztes Jahr mit zwölf anderen in den Irak gereist war, um sich die Lage der nichtmuslimischen Bevölkerung anzusehen. Viele würden gezwungen, zum Islam zu konvertieren, so Tiedemann. „Die Konversion muss nicht nur dadurch glaubhaft gemacht werden, dass die islamischen Kleidervorschriften und die Barttracht beachtet werden, sondern häufig wird zum Beweis der Ernsthaftigkeit gefordert, dass die Familie den Verfolgern ihre Töchter überlässt. (…) Ein anderes Muster besteht darin, ein männliches Familienmitglied zu entführen und ein hohes Lösegeld zu erpressen, das euphemistisch als Dschizya bezeichnet wird, also mit dem Begriff für die traditionell von den nichtmuslimischen Minderheiten geforderten Kopfsteuer. In einigen Fällen berichteten Flüchtlinge, dass ihnen nach erfolgter Zahlung der Ort mitgeteilt wurde, wo sie die Leiche ihres Familienangehörigen finden konnten. In anderen Fällen folgt auf die erste Zahlung eine zweite Forderung.“
Rechtfertigung für diese Verfolgung seien für die Agitatoren „eine Gemengelage aus religiös fundamentalistischem Säuberungswahn, Befriedigung von Rachebedürfnissen und schlicht kriminellen Interessen“. Die Idee eines islamistischen Staates rechtfertige die Verfolgung aller nichtislamischen Bevölkerungsgruppen. „Die Rechtfertigung, auch die Christen zu Freiwild zu erklären, wird aus der Unterstellung einer Kollaboration der Christen mit der amerikanischen Besatzungsmacht gewonnen.“
Hoffnung auf EU-Präsidentschaft
Im April schlug Bundesinnenminister Schäuble Alarm, zunächst bei den Innenministern der Bundesländer und dann bei seinen europäischen Kollegen. Auslöser waren Berichte von der Ermordung des Mossuler Bischofs Paulos Faradsch Rahho. Schäuble fordert seitdem, dass die europäischen Länder noch mehr geflüchtete Christen aus dem Irak aufnehmen sollten. Länder wie Frankreich, Schweden und Finnland signalisierten bereits Zustimmung. Am Donnerstag könnten die europäischen Innenminister für Schäubles Vorschlag stimmen.
In Deutschland wird Schäubles Vorschlag derzeit unter den Politikern diskutiert. Die Unterbringung von Flüchtlingen ist hierzulande Sache der 16 Bundesländer. Mehrere Vertreter von CDU/CSU signalisieren Ablehnung, und ausgerechnet aus der SPD erhält Schäuble Unterstützung. Der niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann (CDU) sieht vor allem ein Sicherheitsproblem. Gegenüber „Welt online“ sagte er: „Es besteht die Gefahr, dass fanatisierte Glaubenskrieger nach Europa geschleust werden und sie dann als Terroristen auf Abruf bei uns leben.“ Durch die Aufnahme von irakischen Flüchtlingen könne sogar einer „ethno-religiösen Säuberung“ von Christen und anderen Minderheiten im Irak gerade erst Vorschub geleistet werden. Schünemann plädiert daher eher für „direkte Hilfen vor Ort im Irak“. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Arnold Vaatz sieht nicht in der Religion, sondern in der Rückkehrwahrscheinlichkeit das entscheidende Kriterium für die Aufnahme. Die sei bei Schiiten und Sunniten eingeschränkt gegeben, bei Christen aber überhaupt nicht.
Dagegen stellte sich der Innenausschuss-Vorsitzende Sebastian Edathy (SPD) hinter Schäuble: Deutschland müsse Verantwortung für die Bewältigung des Flüchtlingsproblems übernehmen, fordert er. Das Argument, auch Kriminelle könnten einreisen, hält er für vorgeschoben. „Man kann nie ausschließen, dass zum Teil welche dabei sind, die böse Absichten verfolgen“, so Edathy.
Auch der Pressesprecher der syrisch-orthodoxen Gemeinde in Berlin, Isa Totzman, begrüßt Schäubles Initiative, äußerte jedoch zugleich die Sorge, die Christen im Irak könnten das Schicksal ihrer Glaubensbrüder in der Türkei erleiden und „bis auf winzige Reste verschwinden“.
In einem Gastkommentar in der „Welt“ betonten nun vier Abgeordnete des Europaparlamentes die Brisanz des Themas. Anlässlich der Beratung der EU-Innen- und Justizminister zu Schäubles Vorschlag am Donnerstag fordern sie: „Europa sollte Iraks Flüchtlinge aufnehmen“. Manfred Weber aus Deutschland, Anna Zaborska aus der Slowakei, Carlo Casini aus Italien und Horst Szymanski aus Polen schreiben: „Europa kann es sich nicht leisten, die größte Flüchtlingskrise vor seiner Haustür zu ignorieren. (…) Während die Europäer über ihre Beteiligung am Irak-Krieg gespalten waren, sollte Europa bei der Unterstützung der Flüchtlinge geschlossen handeln. Die EU kann ein starkes Signal der Solidarität setzen. Es ist höchste Zeit zu handeln.“
Das Meinungsbild in der EU-Kommission habe sich aufgrund der hartnäckigen deutschen Hintergrunddiplomatie und unter dem Eindruck der irakischen Entwicklung jedoch bereits gedreht, ist der Sprecher des Bundesinnenministers, Stefan Paris, überzeugt. Dass die offizielle Ratssitzung der EU-Präsidentschaft bereits am 24. und 25. Juli in Brüssel stattfinde, zeigte laut Stefan Paris, dass sich etwas tue: „Diese Eile ist eher untypisch für europäische Entscheidungsfindungen. Man weiß jetzt, wie dramatisch die Lage für die Flüchtlinge ist.“ (PRO)