Der zweijährige Marian findet Internet toll. Fast jeden Tag sitzt der Kleine vor Papas Laptop, ein Headset auf dem Lockenkopf, und starrt gebannt auf den Monitor. Dort sieht er Oma und Opa, die für ihn ein Versteckspiel inszenieren, und ihn mit Handpuppen zum Lachen bringen. Der Kleine grinst in die Webcam und winkt den Großeltern zurück. Die Internettelefonie Skype und eine angeschlossene Kamera machen es möglich, dass Marian Kontakt zu den 200 Kilometer entfernt wohnenden Großeltern hält.
Ein Zimmer weiter sitzt seine achtjährige Schwester Julia ebenfalls vor dem PC. Mit den Großeltern spricht sie eher selten, dafür umso häufiger mit ihren zahlreichen Freunden in dem Schüler-Netzwerk „Schüler VZ“. Und wenn dort nichts los ist, meldet sie sich bei dem MSN Messenger, einem Instant Messaging Programm von Microsoft, an, um zu sehen, welche Freunde gerade online sind, und eine kurze Unterhaltung von Desktop zu Desktop zu führen. Zwischendurch sucht sie Informationen über Hamster für den Sachkundeunterricht.
Diese beiden Beispiele machen deutlich: Die unter Zehnjährigen kennen keinen Alltag ohne Internet und Handy mehr. Erwachsene sind digitale Immigranten in der digitalen Welt. Sie haben sich den Umgang mit dem Internet mehr oder weniger mühsam angeeignet. Für viele ist es noch immer ein Rätsel, welche Faszination das Netz für die jüngere Generation ausübt. Die Eingeborenen der Online-Gesellschaft können sich dagegen kaum vorstellen, wovon Eltern oder Großeltern manchmal erzählen: eine vergangene Welt, in der es weder Gameboy und Laptop noch Internet gab. Damals, als man Verabredungen sorgfältig planen musste, weil es keine Handys gab, um sich unterwegs zu verständigen.
Digitale Kluft zwischen den Generationen
Zwischen den Generationen aber hat sich ein digitaler Grand Canyon aufgetan – und die Nutzer werden immer jünger. Während schon Zweitklässler die Kommunikationsmöglichkeiten begeistert für sich nutzen, verstehen die meisten Erwachsenen immer weniger, was ihre Kinder im Internet treiben.
Dabei sehen die Heranwachsenden das ganz pragmatisch. „Das Internet ist doch die ganze Welt“, schwärmt eine Neuntklässlerin: „Ich finde Informationen, für die ich sonst lange suchen müsste, ich kann Kontakte zu Menschen haben, die ich sonst nie sehen würde. Und durch Chatten und Instant Messenging spare ich viel Geld, denn wenn ich das alles am Telefon machen würde, wäre das sehr teuer.“
Und so tummeln sich schon Grundschulkinder im ungeschützten Netz, oft genug werden sie auch von den Lehrern beauftragt, nach Informationen für den Unterricht zu suchen. Dabei treffen sie schnell auf Inhalte, die für ihr Alter nicht geeignet sind. Schreckensbilder von Gewalt, erotische Werbung und Pornografie, aber auch kommerzielle Abzockangebote flimmern über den Monitor, sobald man gewisse Internetseiten öffnet. „Die Welt, die gerade nachwächst, wird schon in jungen und vielleicht sogar jüngsten Jahren Bilder und Filme gesehen haben, von denen wir uns gar keine Vorstellung machen. (…) Was Kinder und Jugendliche heute unkontrolliert sehen können, ist pornographischer und gewalttätiger Extremismus, wie ihm niemals zuvor eine Generation ausgesetzt war, und gegen den man sich, zumindest als Jugendlicher, nicht immunisieren kann“, schrieb der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, kürzlich.
Was viele vergessen: Kinder begegnen der Welt und damit auch den Internetinhalten vertrauensvoll, erwarten keine Gefahren darin. Laut JIM-Studie 2007 hält sogar ein Viertel der befragten 13- bis 19-Jährigen das Internet für „extrem glaubwürdig“. Sie nehmen an, was im Internet steht, habe vorher jemand überprüft. Wissenschaftler sehen den ungeschützten Zugang, den Kinder zum Internet haben, sehr kritisch. Jugendliche machen sich umso weniger Gedanken, je jünger sie sind. So wie Marian und Julia sind sie neugierig und offen für die Angebote im Netz. Absoluter Favorit von Jungen und Mädchen sind Kommunikationsplattformen wie Instant Messenger oder Chats, aber auch Soziale Netzwerke (social networks) wie „Schüler VZ“ oder „Studi VZ“.
Wer nicht drin ist, ist nicht in
Was früher die Schüleralben und Freundebücher waren, ist im Internet das Schüler-Verzeichnis, kurz „Schüler VZ“. Zwar treffen sich die Kids dort überwiegend mit Freunden und Mitschülern, ein Drittel der 13- bis 19-Jährigen gab bei der JIM-Studie allerdings an, dass man über das Internet auch gut neue Freund- und Bekanntschaften schließen könne.
Die Nutzerzahlen des Schülerportals zeigen eine rasante Erfolgsgeschichte: Obwohl das Portal erst im Februar 2007 online ging, hat es bereits 2,5 Millionen angemeldete Mitglieder. Wer von sich behauptet, 12 Jahre alt zu sein, darf sich bei dem Schüler-Netzwerk anmelden, beziehungsweise muss von einem Freund eingeladen werden. Naturgemäß werden Eltern und Lehrer nicht eingeladen. Allerdings werden laut der rheinlandpfälzischen Datenschutzbehörde inzwischen Einladungen bei Ebay versteigert, eine Möglichkeit, die natürlich auch von Pädophilen und Kriminellen genutzt werden kann.
Um sich anzumelden, legt ein Neueinsteiger bei einem Netzwerk ein Profil über sich an, gibt Name, Schule, Alter, Wohnort, Lieblingsfilm oder Hobbys an. Dieses Profil könnte für die anderen unsichtbar gemacht werden, dies tun allerdings die wenigsten. Denn sie wollen ja gesehen werden, wollen dazugehören. Und so stellen digitale Netzwerker Fotos vom letzten Urlaub oder vom letzten Klassenfest online, hinterlegen Videos, führen vielleicht auch ein Online-Tagebuch. Auf der eigenen Seite tauscht man Informationen mit anderen Mitgliedern aus oder tritt Gruppen von Gleichgesinnten bei. In Netzwerken wie MySpace, Facebook oder dem deutschen „Wer-kennt-wen“ Portal nutzen viele die Chance, um alte Freunde aufspüren oder nach neuen suchen.
Soweit hört sich alles positiv an und so denken viele Eltern, ihr Kind sei im geschützten Raum der Community sicher. Leider geben die Heranwachsenden auf der Suche nach Zugehörigkeit und Anerkennung oft zu viel von sich preis. „Jeder zweite der 14- bis 29-Jährigen verrät intime Details“, so Edgar Wagner, Datenschutzbeauftragter von Rheinland-Pfalz. Communities funktionieren nach eigenen Regeln und entwickeln eine Eigendynamik: „Je mehr Freunde ich in meiner Kontaktliste habe, desto wichtiger bin ich“, brachte es „Spiegel“-Autor Felix Knoke auf den Punkt.
Diese Haltung bereitet Datenschützern starke Bauchschmerzen. „Die scheinbare Intimität der Internetgemeinschaft verleitet vor allem Jugendliche dazu, vertrauliche Informationen und private Bilder von sich online zu stellen“, erklärt Wagner. „Was gestern noch privat war, ist heute öffentlich.“ Wer sich im Netz für die Daten der Schüler interessiert, darüber machen sich die wenigsten Gedanken.
Der Pädagoge Markus Gerstmann schockte seine Schüler kürzlich dadurch, dass er ihre „Schüler VZ“-Profile ausdruckte und sie für alle sichtbar ins Klassenzimmer hängte. Die Siebtklässler protestierten, denn sie fanden dies eine Verletzung ihrer Privatsphäre. Als der Lehrer erklärte, dass nicht nur die Klassenkameraden sehen können, wie sie sich in dem Online-Netzwerk präsentieren, sondern die ganze Welt, war das Entsetzen groß. „Die meisten denken, da gucken doch nur meine Freunde drauf“, berichtet Gerstmann, sie stellen Fotos online, wie sie sich bei der letzten Party betrunken haben und Selbstbeschreibungen, dass sie zur Gruppe „Chillen, Grillen, Kasten killen“ gehören.