Am Jahrestag des Amoklaufes in Emsdetten sollte an einem Gymnasium in Köln eine ähnliche Gewalttat stattfinden. Am 20. November 2006 verletzte ein 18-jähriger ehemaliger Schüler auf dem Schulgelände 37 Personen und tötete sich anschließend selbst. Seine Tat hatte er Wochen zuvor im Internet angekündigt. Ähnliches planten laut Polizeiangaben zwei Schüler des Georg-Büchner-Gymnasiums in Köln. Sie erstellten eine „Todesliste“ mit den Namen von Mitschülern, die sie mit Pfeilen aus einer Armbrust und Molotow-Cocktails umbringen wollten. Die Polizei kam dem Vorhaben auf die Spur und verhörte die verantwortlichen Schüler. Dabei stellte sich heraus, dass die beiden ihre Pläne bereits vor Wochen aufgegeben hatten. Nach dem Verhör verübte der 17-Jährige Selbstmord. Der 18-Jährige wurde auf eigenen Wunsch in die Psychiatrie aufgenommen.
Aus Angst vor einem Amoklauf in einem Gymnasium im nordrhein-westfälischen Kaarst hat die Polizei am heutigen Dienstag die Schule abgeriegelt. Auslöser war ein Gespräch im Internet-Chat, den die finnische Polizei den deutschen Kollegen gemeldet hatte. Ein weiterer Fall fand vergangene Woche in Gütersloh statt, wo laut Polizeibericht eine 16-jährige Gesamtschülerin in einem Schüler-Chatroom eine Drohung gegen ihre Schule gelesen und die Polizei informiert habe.
Warum häufen sich die Ankündigungen von Amokläufen?
Die Soziologin Barbara Kaletta vom Institut für Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld führt die Zunahme von Amok-Ankündigungen darauf zurück, dass ein stereotypes Bild von Amokläufen überall im Internet verfügbar ist. In einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ sagte sie: „Die Jugendlichen haben durch die globale Vernetzung die Möglichkeit, Bilder und Videos beliebig oft aufzurufen und sich darüber auszutauschen.“
Der Kriminologe und Sozialpädagoge Frank Robertz (Berlin) beobachtete im vergangenen Jahr verstärkt, dass gewisse Jugendliche ihre Materialien, beispielsweise Filme, bewusst ins Internet stellen oder sie kurz vor der Tat an die Presse versenden. Neu dabei sei, dass sich Jugendliche, die sich für Gewalt interessieren mit Gleichgesinnten vernetzten. Beispielsweise habe der Amokläufer aus Finnland Kontakte mit Gleichgesinnten in den USA gepflegt. Es sei allerdings nicht neu, dass vorherige Taten verherrlicht werden und die Schüler sehr genau studieren, was jugendliche Täter vor ihnen gemacht haben. Auf diese Art entstehe ein „Role-Model“ (Rollenvorbild) des Schulamokläufers, das von Nachahmern reproduziert werde. „Sie ziehen identische Kleidung an, statten sich mit ähnlichen Waffen aus und hinterlassen Nachrichten im Internet.“
Dies sei ein gezieltes Personality-Programm, „sie wollen sich nach außen darstellen“, so Robertz gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“. Für Robertz sind Amokdrohungen oder auch Filme, die Jugendliche im Internet veröffentlichen, eindeutige Warnsignale. Allerdings müsse man unterscheiden zwischen harmlosen pubertären Phantasien und Gewaltphantasien. Nicht nur Internetbotschaften, sondern auch Zeichnungen und Schulaufsätze, in denen sich die Schüler mit extrem gewalttätigen Inhalten auseinander setzen, können Hinweise sein.
Auch Barbara Kaletta bestätigt: „Das Internet ist nicht alleinige Ursache für Amokläufe. Aber es bietet durch die Möglichkeit zur ständigen visuellen Wiederholung der Tat einen Rahmen, in dem sich potentiell gefährdete Personen wiederfinden können. Jugendliche, denen es an Anerkennung und Erfolgserlebnissen mangelt, finden hier einen Ort, an dem sie sich verstanden fühlen.“
Außenseiter, die sich nach Anerkennung sehnen
Es sind vor allem Jugendliche mit massiven Identitätsproblemen, die nicht in der Lage seien, eine „zufriedene Erwachsenenmentalität anzunehmen“, so Kaletta. Amokläufer seien meist Außenseiter, die sich klein und machtlos erleben. „Dem setzen sie die Gewalt gegen andere entgegen und wählen die Identität des Amokläufers, der Macht hat über Leben und Tod“ so die Soziologin.
Robertz spricht sich für eine frühzeitige Prävention an Schulen aus. Seiner Ansicht nach müssten mehr Sozialarbeiter und Psychologen eingestellt sowie das soziale Lernen an Schulen gefördert werden. Die Polizei biete bereits jetzt Fortbildungen an, um Lehrer so zu schulen, dass sie die Signale richtig deuten könnten.
In Emsdetten ist die Wachsamkeit der Schüler und Lehrer seit der Tat gewachsen: „Würden die Schüler heute so etwas feststellen, was sie damals im Vorfeld festgestellt hatten, wären sie sofort beim Betreuungslehrer“, sagte Schulleiterin Karola Keller. Auch sie plädiert dafür, die Weichen so zu stellen, „dass man die Warnsignale erkennt“.
Das Schulministerium in Nordrhein-Westfalen hat als Konsequenz aus der Tat in Emsdetten einen „Notfallordner“ zum richtigen Handeln in Krisensituationen erstellt. Zu zahlreichen Themen – von Sachbeschädigung bis hin zu Selbstmorden und Amokläufen – werde dargestellt, was Lehrer in solchen Fällen tun sollen, so Schulministerin Barbara Sommer (CDU) in Düsseldorf. Der Ordner soll bis Weihnachten an alle Schulen verteilt werden.