„Hunderttausende beten mit Papst Benedikt XVI. auf dem Weltjugendtag in Köln. Karikaturen des Propheten Mohammed in westlichen Zeitungen entfachen einen Aufruhr in der islamischen Welt. Christliche Fundamentalisten in den Vereinigten Staaten verbannen Darwins Evolutionstheorie aus dem Schulunterricht. Noch vor wenigen Jahren hätte kaum jemand eine solche Rückkehr des Religiösen erwartet. Lange lautete die gängige These, der Glaube werde in der naturwissenschaftlich geprägten Welt nur noch eine nebensächliche Rolle spielen“, heißt es im Editorial („Hausmitteilung“) des „Spiegel special“.
In der Ausgabe widmen sich die Autoren und Korrespondenten Themen wie „Glaube und Werte“, dem „Erfolgsrezept der amerikanischen Megachurches“, dem „Feindbild Islam“ oder der „Strahlkraft“ asiatischer Religionen.
Unter anderem berichtet „Spiegel special“-Autorin Susanne Weingarten über die US-amerikansiche Saddleback Church des bekannten Pastors und Bestsellerautors Rick Warren („Leben mit Vision“). „Die Megachurches in den USA sind riesige Wohlfühltempel mit Unterhaltungsprogramm… (Sie) verkaufen den christlichen Glauben als (einzigen) Weg zu einem besseren, glücklicherem Leben, und gerade in den amerikanischen Vorstädten kommt dieser praktische Tetrapack an geistlicher Feel-good-Nahrung fabelhaft an“, meint die Autorin nach einem Besuch der Gemeinde Warrens.
In weiteren Beiträgen – wie einem Interview mit dem Münchner Theologen Friedrich Wilhelm Graf – geht es dann auch detailliert um die „christlichen Fundamentalisten“.
Religion gab es schon immer
„Religion ist nie weg gewesen. Wir haben viele religiöse Phänomene bloß nicht prägnant wahrgenommen“, sagt Graf. Weltweit, aber auch in Europa, gebe es einen erhöhten Religionsbedarf. Nicht nur der Islam erstarke, sondern auch das Christentum.
Besonders charismatische, pfingstlerische Gruppen wachsen
Da wäre etwa „das sehr aggressive Wachstum eines sektiererischen Typs von Christentum, nämlich der neuen charsimatischen, pfingstlerischen Gruppen zu nennen“, so Graf weiter. Als Beispiel führte er etwa die Ausbreitung des Christentums in Afrika oder Südkorea an. Diese Entwicklungen führten allerdings zu Konflikten, die in Europa unterschätzt würden wie zum Beispiel gewalttätige Übergriffe auf Christen weltweit.
Auch in Teilen Europas, beispielsweise in der Bundesrepublik Deutschland, werde die Kirche trotz Kirchenaustritten wieder stärker. Denn Kirchenaustritte bedeuten nicht unbedingt einen Bruch mit der christlichen Identität. „In allen europäischen Gesellschaften agieren immer mehr Anbieter auf dem Religionsmarkt, die traditionellen Monopolisten sind durch Konkurrenten unter Druck geraten. Diese neuen Angebote zwingen dazu, sich zu profilieren“, so Graf. Durch die verstärkte Konkurrenz wird auch mehr Religion nachgefragt.
Die Zukunft der christlichen Religion sieht Graf im globalen Süden, das heißt in Lateinamerika und in Afrika, weil sich dort das Christentum rasch ausbreitet. Besonders die charismatischen Pfingstkirchen entwickelten sich. Bei den Pfingstlern gebe es eine Form des Christentums, die in kleinen Gruppen eine sehr hohe Sozialdisziplinierung erreiche und eine starke Askesekraft entfalte.
Fundamentalistische Weltbilder sorgen für Ordnung und Stabilität
Auf die Frage, was die Pfingstler, die „Spiegel special“ als „christliche Fundamentalisten“ bezeichnet, von anderen Gläubigen unterscheide, antwortete Graf: „Fundamentalisten glauben an die unmittelbare normative Bindung heiliger Schriften: Keine historische Kritik, keine Relativierung, sondern ‚das gilt‘. Hinzu kommt eine klare Innen-außen-Unterscheidung, es gibt die Guten und die Bösen. Fundamentalisten partizipieren mehr als andere, sie geben wirklich ein Zehntel ihres Einkommens an die religiöse Gruppe. Ferner finden wir oft ein apokalyptisches Weltbild, also die Vorstellung, dass es so nicht mehr lange weitergeht.“ Zudem hätten sie einen klaren Willen, im Chaos des Lebens Ordnungsstrukturen stabil zu halten.
Zum Begriff „Fundamentalismus“ sagte Graf, dass dies „kein guter analytischer Begriff“ sei. „Es ist eine Kampfvokabel aus den innerprotestantischen Debatten des frühen 20. Jahrhunderts, die Leuten galt, die ihre ‚fundamental truths‘ gegen historische Kritik und die Verwissenschaftlichung in der Theologie geltend machen wollten. Die wurden von anderen als Fundamentalisten bezeichnet.“
In Deutschland, so der Theologe, störe ihn, wie über Religion geredet wird. „Fruchtbare, niveauvolle intellektuelle Debatten hat es dazu schon lange nicht mehr gegeben. Wir erleben viel hohle Konsensrhetorik, aber die Leute merken täglich doch, dass Konfession bedeutsam bleibt.“