Friedrich Kramer: „Waffen schaffen keine Gerechtigkeit“

Bischof Kramer ist Pazifist – von Berufs wegen. Warum er dazu aufruft, Putin nicht zu dämonisieren, die Geschichten gefolterter Christen ihn skeptisch machen und wie ausgerechnet Viktor Orbán beim Frieden helfen soll, erklärt er im PRO-Interview.
Von Anna Lutz
Friedrich Kramer ist seit einem Jahr Bischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland

PRO: Herr Kramer, wir gedenken dieser Tage Dietrich Bonhoeffers, der vor 80 Jahren starb und den christlichen Pazifismus schließlich nach langem Ringen aufgab, um sich dem bewaffneten Widerstand gegen Hitler anzuschließen. Ist er für Sie ein Vorbild, obwohl Sie selbst Pazifist sind?

Bischof Friedrich Kramer: Er ist mir ein Vorbild in seiner Klarheit im theologischen Denken. Dass Bonhoeffer derzeit so stark in der Frage des Ukrainekriegs in Deutschland rezipiert wird, hat damit zu tun, dass er ein Ja zur Gewalt gegen Hitler gefunden hat. Aber Bonhoeffer wusste, dass das eine schuldhafte Verstrickung ist und dass der Tyrannenmord christlich immer abgelehnt wurde. Insofern kann er sich in seiner Entscheidung nicht auf Christus berufen. Und auch das wusste er. Deshalb hat er so lange mit der Frage gerungen. Aber Bonhoeffers Kampf gegen Hitler ist kaum zu vergleichen mit der Lage, in der wir heute sind. Erstens kämpfte er nicht gegen einen Feind im Ausland. Bei ihm ging es um die eigene Regierung. Zweitens müssen wir sehr vorsichtig sein, die Situation des Faschismus zu Hitlers Zeiten auf die heutige Lage in der Ukraine und Russland zu übertragen.

Sie sind gegen Waffenlieferungen an die Ukraine, haben immer Diplomatie und intensive Gespräche gefordert. Kann das mit Putin gelingen?

Kann Frieden gelingen mit einem Oligarchen wie Donald Trump? Wir können uns die Herrscher dieser Welt nicht aussuchen. Wir, die wir in einer Demokratie leben, dürfen mitentscheiden. Aber die christliche Friedensbotschaft hängt nicht davon ab, ob es blutrünstige Kaiser oder machtbesessene Oligarchen gibt. Die Idee der Gewaltlosigkeit Jesu überdauert all diese, auch das römische Imperium. Im Krieg sterben nicht die Mächtigen, sondern der einfache Mann. Kriege sind mörderisch und durch nichts zu rechtfertigen. All das spricht für den Pazifismus. Ich habe mich strikt gegen Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen, weil diese einen Krieg am Laufen halten, der weder sieg- noch befreiungsversprechend ist. 

„Die christliche Friedensbotschaft hängt nicht davon ab, ob es blutrünstige Kaiser oder machtbesessene Oligarchen gibt.“

Bischof Kramer im Interview mit PRO

Was ist die Alternative zur Waffengewalt bei einem Machthaber wie Putin, über den John Bolton, der ehemalige außenpolitische Berater von Donald Trump, sagt: „Ich traf Putin zum ersten Mal im Oktober 2001, und ich fand ihn so kaltblütig, wie ich noch nie eine Person zuvor erlebt habe.“

In der Außenpolitik hat Leichtgläubigkeit keinen Platz. Genauso wenig empfehlenswert ist aber absolutes Misstrauen und Dämonisierung. Denn damit wird jede Möglichkeit auf Gespräche und Verabredungen ausgesetzt. Ich habe keinerlei Illusionen, was Putin angeht. Er ist ein knallharter KGB-Mann, setzt Macht und Gewalt ein, hat ihnen sogar seinen Aufstieg zu verdanken. Dennoch gilt für mich der Satz von Kant: Wenn du Frieden schaffen willst, dann musst du ein Restvertrauen haben für den Feind. Wenn du ihm in Kriegsrethorik jede Vertrauenswürdigkeit absprichst, dann gibt es keine Friedensoption mehr. Dann bleibt nur das Kämpfen. Eine Atommacht wie das heutige Russland aber kann man auf dem Schlachtfeld nicht besiegen. Nun geht es erstmal um einen Waffenstillstand. Ansonsten kann es gut sein, dass der Krieg noch zehn Jahre weiterläuft. Das ist doch eine fatale Perspektive. Tausende Zivilisten werden sterben. 

Landesbischof Friedrich Kramer sah die Kirchen auch während des Lockdowns gut aufgestellt Foto: Anne Hornemann

Bischof Friedrich Kramer

Friedrich Kramer ist Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) und Friedensbeauftragter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Er ist gegen Waffenlieferungen an die Ukraine, für ein strenges Rüstungskontrollgesetz in Deutschland, schließt aber nicht aus, dass die Bundesrepublik sich zu Verteidigungs- und Abschreckungszwecken mit Waffen ausstattet.

Die Friedensgespräche, die Sie sich wünschen, werden gerade geführt, die Amerikaner verstehen sich als Vermittler. Gefällt Ihnen, was Sie sehen?

Niemandem kann gefallen, wie der ukrainische Präsident vor den Augen der Öffentlichkeit gedemütigt wird, wie die Amerikaner kurz und knapp Geheimdienstinformationen vorenthalten und Hilfe abschneiden. Das alles ist erniedrigend und brachial. Zugleich ist es bitter, dass Europa es an einem bestimmten Punkt aufgegeben hat, Friedensgespräche ernsthaft zu erwägen. Wir sollten doch ein besonderes Interesse daran haben. Stattdessen haben wir uns darauf verlegt, die Ukraine militärisch zu stärken. Dabei gibt es doch Chancen: Europa ist vielstimmig. Denken Sie an Viktor Orbán in Ungarn. Ein russlandkonformer Politiker. Warum nutzen wir das nicht für Gespräche?

Orbán als Vermittler?

Für die meisten Europäer ist Orbán ein rechtskonservativer Hardliner, der nicht viel auf Menschenrechte gibt. Wie könnte er mit Putin verhandeln?

Die EU könnte ihn beauftragen. Auch wenn wir ihn politisch nicht unterstützen und das deutlich machen, so hat er doch einen guten Kontakt zu Russland. Warum versuchen wir nicht, das zu nutzen?

Putin hat eine weitreichende Waffenruhe abgelehnt und stellt stattdessen eigene Bedingungen, etwa, dass die Ukraine keine Soldaten rekrutiert und dass keine ausländischen Soldaten die Waffenruhe absichern. Ist Ihnen ein solcher Diktatfrieden lieber als ein bewaffneter Kampf der Ukraine?

Der Pazifist sagt nicht, dass die Ukraine sich ergeben soll. Er ruft zum gewaltfreien Widerstand und zur gewaltfreien Lösung von Konflikten auf. Sanktionen zum Beispiel. Wenn es zu einer umfassenden Waffenruhe käme, dann rettete das Leben und ermöglichte Gespräche, die dringend nötig sind. Es heißt immer, die Ukraine müsse selbst entscheiden, welche Bedingungen sie akzeptiert. Aber das Land ist doch derart abhängig von anderen Kräften, nicht zuletzt den Amerikanern, dass es erpressbar ist. Zudem ist es offensichtlich, dass die Russen derzeit keinen Frieden wollen.

Ausrüsten statt Aufrüsten – und nur mit strenger Kontrolle

Militärexperte Carlo Masala sagt: Wenn Deutschland von Anfang an beherzt Waffen geliefert hätte statt nur Helme, dann hätte Russland sich niemals derart erfolgreich in der Ukraine festsetzen können. Wer weiß, vielleicht wäre der Krieg dann schon vorbei. Ist das für Sie kein Argument für Waffen?

Ich fand es richtig, dass wir bei den Waffenlieferungen so behutsam vorgegangen sind. Es gab zu Beginn des Krieges Verhandlungen in der Türkei. Russland hatte sich damals zurückziehen müssen, weil es von der Kraft der Ukraine überrascht wurde. Es gab ein Zeitfenster, in dem Verhandlungsbereitschaft von beiden Seiten da war. Einen Gesprächsbeginn. Damals haben Europa und die Verbündeten signalisiert: Wir werden die Ukraine derart unterstützen, dass Russland aus dem Gebiet verjagt wird. Da liegt der eigentliche Fehler. In dem damaligen Setting wurde die Gunst der Stunde nicht ergriffen. Im Übrigen weiß Carlo Masala genau, dass man nur Waffen versprechen kann, die man auch in der Lage ist, zu produzieren. Europa ist bisher nicht auf Kriegsproduktion eingestellt. Wer nun aber die Rüstungsindustrie hochfahren möchte, der nimmt in Kauf, dass Europa langfristig Hochpräzisionswaffen für die ganze Welt produziert. Denn eine solche Industrie braucht Absatzmärkte  und Berechenbarkeit. Das wird destabilisierend wirken. Im Gegensatz zur Abrüstung, wie wir das in den 90er Jahren erlebt haben. Also: Es ist verantwortungslos, Aufrüstung ohne ein Rüstungskontrollgesetz zu beschließen, Waffen in großem Stil zu produzieren ohne Kontrolle.

Es scheint ganz so, als verliere Europa seinen wichtigsten Verbündeten, die USA. Viele fordern nun eine Aufrüstung, damit Deutschland und die EU sich verteidigen können. Wieso brauchen wir das in Ihren Augen nicht?

Ich war nie gegen Landesverteidigung und habe der Ukraine dieses Recht auch nie abgesprochen. Ich sage: Wir müssen uns ausrüsten, aber nicht aufrüsten. Wir müssen die Bedrohungslage ernst nehmen, aber dürfen nicht in Hysterie verfallen. Wir müssen uns sichtbar verteidigen können und klar machen, dass wir zusammenstehen. Die Einheit Europas ist für Putin das beängstigendste. Nicht die Waffen. Wir sollten aber aufpassen, nicht selbst zur Bedrohung zu werden durch Aufrüstung. Wir dürfen nicht unkontrolliert mit Milliarden die Rüstung hochfahren. Das gefährdet unsere Sicherheit. Es ist das richtige Maß gefragt. 

Militärbischof Bernhard Felmberg sagt, gewaltfreie Mittel der Konfliktbearbeitung seien im aktuellen Krieg „wenig erfolgversprechend“. Die Evangelische Kirche ist gespalten.

Wir sind vielstimmig, aber nicht gespalten, denn das Ziel des Friedens ist klar ein gemeinsames. Es gibt eine hohe Akzeptanz der Tatsache, dass Deutschland sich ausrüsten muss, um sich zu verteidigen. Aber es gibt keine Akzeptanz des Einsatzes von Waffen. Waffen zur Verteidigung werden angeschafft, um sie nie wirklich einzusetzen. Sie dienen der Abschreckung, um Waffeneinsatz zu verhindern. Und sobald es zu einem Einsatz kommt, haben alle versagt. Bischof Felmberg meint, dass in dem aktuellen Konfliktgeschehen in der Ukraine kein Verzicht auf Waffen möglich ist. Aber das behauptet ja auch niemand in der evangelischen Friedensarbeit. Wenn die Waffen erst einmal sprechen, dann sind die Parteien auf dem Schlachtfeld nicht mit gewaltfreien Mitteln zu befrieden. Aber es ist doch ganz klar: Konfliktlösungen durch Waffen sind nicht nachhaltig. Friedensverhandlungen, denen am Ende alle Seiten zustimmen, sind es schon. Der Mythos von der erlösenden Gewalt ist am Ende immer eine Lüge. Da bin ich mir mit Bernhard Felmberg ziemlich sicher einig. 

„Konfliktlösungen durch Waffen sind nicht nachhaltig. Friedensverhandlungen, denen am Ende alle Seiten zustimmen, sind es schon.“

Bischof Kramer im Interview mit PRO

Es gibt Berichte aus der Ukraine, nach denen russische Besatzungskräfte ukrainische Christen folterten und ukrainische Kinder zum Gebet für Russland zwingen. All die Kriegsverbrechen, die zerstörten Kirchen, die russisch-orthodoxen Kirchenführer, die Bomben segnen … haben Sie da nie das Bedürfnis, auf den Tisch zu hauen und zu sagen: Es reicht! Und wenn es nicht anders geht, dann beenden wir dieses gottlose Getue eben mit Waffengewalt!

Ich spüre angesichts dieser Berichte genauso eine Wut. Aber Gerechtigkeit funktioniert nicht spiegelbildlich und sie wird nicht durch Waffengewalt hergestellt. Zudem bin ich ein großer Skeptiker der Geschichten, die in Kriegszeiten erzählt werden. Ich würde es mal Kriegsrethorik nennen. Die Geschichten von vergewaltigten Frauen, gefolterten Christen und zerstörten Kirchen werden mir nicht erzählt, damit ich sage: Es muss Frieden geben. Sie werden mir erzählt, damit ich in Kauf nehme, dass Menschen getötet werden. Damit der Kampf weitergeht. Und nur im Krieg können Verbrechen wie der Holocaust geschehen. Der Krieg ist die Voraussetzung dafür. Der Krieg war die Voraussetzung für den Mord an den Armeniern. Schauen Sie nach Russland. Dort werden nun Menschenrechtsorganisationen wie „Memorial“ verboten, der Oppositionsführer Alexej Nawalny wurde umgebracht. Gerechtigkeit ist nicht durch Waffen zu schaffen, sondern dadurch, dass Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt und ihre Taten dokumentiert werden. Ich freue mich darauf, irgendwann hoffentlich einen über 8o-Jährigen Putin in Den Haag zu sehen.

Die letzte, vielleicht wichtigste Frage: Was glauben Sie, würde Jesus heute mit Blick auf die Ukraine tun?

Er würde sagen: Lasst die Politik tun, was die Politik tun muss. Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist. Du aber, lass dir dein Herz nicht vergiften. Sei ein Streiter für den Frieden, für die Barmherzigkeit, für die Gewaltlosigkeit. Stimme nicht ein, wenn die Herzvergifter dir Angst machen wollen. Geh weiter auf dem Weg des Friedens und sei bereit, dafür auch zu leiden. 

Herr Bischof, vielen Dank für das Gespräch!

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