PRO: Herr Lüdke, vor fast 250 Jahren wurde die letzte angebliche „Hexe“ verbrannt. Was sind die größten Fehlannahmen, wenn wir über das Thema reden?
Frank Lüdke: Da gibt es mehrere. Ein Missverständnis ist, dass die Hexenprozesse und -verfolgungen vor allem eine kirchliche Angelegenheit waren. Sie fanden aber meistens vor weltlichen Gerichten statt. Die Kirche hat zwar die Basis für das Denken geliefert, aber die Prozesse nicht durchgeführt. Auch die Zahl der Opfer wird oft viel zu hoch angesetzt. Die Forschung geht heute von etwa 60.000 Toten aus. Es ist auch falsch, dass es nur einzelne böse Machthaber waren, die sich um das Thema gekümmert haben. Es gab eine weit verbreitete Zustimmung in der Gesellschaft und die Menschen schauten gerne zu, wenn Hexen verbrannt wurden.
Viele verorten die Hexenprozesse eher ins Mittelalter. Auch das ist nicht ganz richtig, oder?
Viele denken tatsächlich, dass sie ins dunkle Mittelalter gehören. Bis zum 15. Jahrhundert gab es aber kaum Hexenprozesse. Ganz im Gegenteil: die Kirche hat sie sogar bekämpft oder Erlasse getätigt, die diejenigen bestrafen sollten, die solche Vorwürfe äußern. Die Verfolgungen begannen erst um 1450, nahmen dann in der Reformationszeit etwas ab, aber stiegen danach massiv an. Die meisten Opfer gab es von 1560 bis 1630. Im 18. Jahrhundert wurden die Verfolgungen dann immer stärker bekämpft und die letzte Hinrichtung wegen Hexerei gab es 1782 in der Schweiz. Es ist also eher eine neuzeitliche Erscheinung.
Wie sind die regionalen Schwerpunkte zu erklären?
Es hing sehr stark von den jeweiligen Machthabern ab. Wenn ein Fürst ein besonderes Faible für die Hexenverfolgung hatte, war er sehr aktiv. Im benachbarten Fürstentum konnte das anders aussehen. Tendenziell taten sich eher die kleineren Grafen und Fürsten hervor. Regionale Schwerpunkte lagen in Thüringen, im Rheinland und in Westfalen. Auch aus einzelnen Städten wie Würzburg und Bamberg liegen uns viele Dokumente vor.
Wie sahen solche Hexenprozesse ganz praktisch aus?
Wenn eine Person eine andere der Hexerei bezichtigte, reichte sie eine Anklage ein. Dann schauten Beamte vor Ort, ob sich die Anklage erhärtete. Danach verfassten sie eine Anklageschrift. Meistens war der Hauptanklagepunkt die so genannte Teufelsbuhlschaft. Man warf der angeklagten Person vor, dass sie Geschlechtsverkehr mit dem Teufel hatte und dadurch einen Schadenszauber ausführen konnte. Wurde die Beschwerde akzeptiert, kam es zur Verhaftung. Die Betroffenen wurden nackt ausgezogen und kahl rasiert, damit sie nirgends magische Werkzeuge verstecken konnten. Falls die Haut Unregelmäßigkeiten aufwies, wurden diese als Zeichen des Teufels gedeutet. Als nächstes gab es eine „Gütliche Befragung“. Die Beschuldigten konnten zugeben, dass sie mit dem Teufel im Bunde standen. Falls sie dies nicht taten, wurden ihnen die Folterinstrumente gezeigt. Legten sie immer noch kein Geständnis ab, wurde ein „Peinliche Befragung“ durchgeführt. Diese Folter führte dann häufig zu einem Geständnis. Oder die Person wurde freigelassen, wenn man merkte, dass es sich nicht um eine Hexe oder einen Hexer handelte. Gab die Person zu, dass sie mit dem Teufel im Bunde stand, wurde das Urteil gesprochen oder noch weiter gefoltert, um auch noch Komplizen herauszufinden. Das Urteil für Hexerei war im Heiligen Römischen Reich Tod durch Verbrennen.

Welche sozialen Schichten waren betroffen?
Es gab zwei Phasen. In den ersten 100 Jahren waren vor allem sozial-schwache und arme Menschen angeklagt, aber auch alleinstehende, einsame Frauen. In der Hochzeit der Verfolgung Anfang des 17. Jahrhunderts gibt es viele Dokumente, in denen auch Ratsmitgliedern Hexerei vorgeworfen wurde. Es häuften sich die Fälle, dass auch vermögende Personen beschuldigt wurden, denn bei einer Verurteilung konnte man auch auf das Vermögen der Beschuldigten zugreifen. Es hat sich also ein Wandel vollzogen: hin zum Bürgertum.
Wie hat sich die Kirche in dieser Frage positioniert? Es gab ja auch dort zahlreiche Gegner.
In der Kirche gab es viele theologische Diskussionen, wie man sich zu diesem Thema positionieren sollte und die waren nicht eindeutig. Die Kirche lieferte vor allem die theologische Basis für die Hexenverfolgungen. Sie glaubte an die Existenz des Teufels und der Dämonen und predigte diese auch. Diese Vorstellung wurde den Menschen von klein auf mitgegeben. Darauf ist die Ansicht gewachsen, dass Menschen mit diesen bösen Mächten kooperieren können. Manche beriefen sich auf Kirchenvater Augustinus, der bereits im 4. Jahrhundert die Idee formulierte, dass man Sex mit dem Teufel haben könnte. Erst 1.000 Jahre später bei Thomas von Aquin wurde das theologisch salonfähig.
Gab es Unterschiede zwischen katholischer Kirche und Protestanten?
Ja, aber die waren gering. Im Gegensatz zu diesen beiden nahmen die orthodoxe Kirche und der Islam gar nicht an Hexenjagden teil. Der größte Unterschied ist, dass in katholischen Gebieten mehr Männer beschuldigt wurden. Das könnte mit der jeweiligen Bibelübersetzung zu tun haben. In 2. Mose 22,17 war in der ursprünglichen Luther-Übersetzung davon die Rede, dass man keine „Hexen“ am Leben lassen soll. Er hat die weibliche Form gewählt und deswegen haben die Protestanten vor allem auf die Frauen geschaut. In der katholischen Übersetzung ist von „Zauberern“ die Rede. Die männliche Formulierung könnte zu den Unterschieden geführt haben.
Über welche Bibelstellen wurde debattiert, wenn es um Hexenverfolgungen ging?
In der Tat ist das in der Bibel kein großes Thema. Neben 2. Mose 22,17 werden in 5. Mose 18,10-11 verschiedene Arten magischer Praktiken aufgezählt, mit der das Volk Gottes nichts zu tun haben sollte. Viele der Begriffe kann man heute nicht mehr richtig zuordnen. Man hat sich zwar auf die Stelle berufen, aber konnte wenig daraus ableiten, weil es nicht konkret war. So hat die Bibel 1.000 Jahre lang gar nicht dazu geführt, dass Menschen wegen Hexerei verfolgt wurden. Als es dann zu der Verfolgung kam, hat man sich nachträglich die Begründung geholt und die Hexenverbrennungen biblisch gedeckt.
Wie verhielten sich die Theologen der Zeit: etwa den Pietisten Spener und Francke?
Als Philipp Jakob Spener 1675 sein Hauptwerk „Pia Desideria“ geschrieben hat, waren die Verfolgungen schon abgeebbt. Spener und Francke sahen die Hexenverfolgung grundsätzlich kritisch. Sie haben diese akzeptiert, aber deutlich für Barmherzigkeit plädiert und die brutalen Foltermethoden kritisiert. Aus meiner Sicht haben sie auch das Ende der Hexenjagd gestärkt. Die entscheidenden Bücher, die zum Ende der Hexenjagd beigetragen haben, hat der Philosophieprofessor Christian Thomasius in Halle geschrieben. Er war ein enger Freund von August Hermann Francke. Von daher war das Zentrum des Pietismus auch ein Zentrum der Ablehnung der Hexenverfolgungen.
Haben deswegen auch viele Menschen der Kirche und dem Glauben den Rücken gekehrt?
Konkrete Zahlen gibt es nicht, denn in der Zeit der Hexenverfolgung gab es keine legalen Kirchenaustritte. Man musste Kirchenmitglied sein. Selbst wenn Menschen der Kirche den Rücken kehrten, gab es keine empirischen Erhebungen zu den Beweggründen. Ich glaube eher, dass es über die Aufklärung bis heute ein nachträglicher Faktor ist, dass die Menschen die Kirche verlassen. Viele argumentieren, dass sie nicht Mitglied einer Kirche sein möchten, die für Kreuzzüge oder Hexenverfolgungen verantwortlich ist und da viel Schuld auf sich geladen hat. Ich glaube, dass das ein apologetisches Problem ist, das manche Menschen bis heute in den Atheismus treibt. Letztlich kann sich die Kirche nicht davon freisprechen, dass sie Dreck am Stecken hat.
Es war ja auch eine Zeit vieler Krisen, Kriege und Seuchen. Haben die Menschen bewusst nach Sündenböcken gesucht?
Tatsächlich suchen sich Menschen in schwierigen Zeiten ganz oft Sündenböcke und wollen wissen, warum es ihnen schlecht geht. Die Bevölkerung konnte sich vieles nicht erklären und fühlte sich manchen Dingen hilflos ausgeliefert. Durch die Pest fragten sich viele, welche böse Macht dafür verantwortlich ist, dass so viele Menschen sterben. Hinzu kamen Missernten und der Dreißigjährige Krieg. Die Menschen wollten Schuldige für ihren Zustand finden und ihn beenden. Sie glaubten daran, dass sich alles wieder zum Guten wenden würde, wenn der Sündenbock gefunden war. Das sehen wir bis heute. Die Gesellschaft sucht sich eine bestimmte Personengruppe, die sie für etwas verantwortlich macht: z.B. die Juden, die Ausländer oder die Schwarzen. Die Forscher sagen, dass die Gruppen der Hexen und Hexer vielfältig als Sündenbock instrumentalisierbar waren, durch deren Tötung man sich dann Entlastung und Besserung erhoffte.
Ein wichtiges Druckerzeugnis der damaligen Zeit war auch Heinrich Kramers Buch „Der Hexenhammer“. Wie hoch schätzen Sie die Bedeutung der Veröffentlichung ein?
Die Wirkung des Buches war enorm und kann tatsächlich nicht hoch genug eingeschätzt werden. Nach der Veröffentlichung 1486 war das Buch ein wichtiger Katalysator, der bis ins 17. Jahrhundert 29 Auflagen erreicht hat. Die Menschen haben sich daran als Standardwerk orientiert. Es hat die Fragen beantwortet, was eine Hexe ist, was sie alles anrichten kann und wie man ihr den Prozess macht. Der Hexenhammer war zwar kein offizielles kirchliches Buch, aber es hat das Bewusstsein der Machthaber und der Bevölkerung sehr stark geprägt. Der Autor hat eine wesentliche Mitverantwortung dafür, was in Europa geschehen ist.
In Europa gibt es kaum noch Hexenverfolgungen. Global sieht das anders aus?
Die Hexenverfolgung ist nur in Europa vorbei. Besonders in Afrika stehen sie bis heute noch auf der Tagesordnung. In Afrika sollen seit den 60er-Jahren mehr Menschen durch die Hexenverfolgung ums Leben gekommen sein als in ganz Europa. Es gibt Morde und Lynchmorde an vermeintlichen Hexen und Hexern. Manche Länder erlassen sogar Gesetze, die das kontrollieren und eindämmen sollen. Katholische Missionswerke haben 2020 einen „Internationalen Tag gegen den Hexenwahn“ proklamiert, um auf das aufflammende Problem aufmerksam zu machen. Da haben wir Christen auch eine Verantwortung, indem wir aufklärend eingreifen, damit nicht wieder unschuldige Menschen sterben.
Wie gut hat die Aufarbeitung bisher funktioniert?
Das Thema wurde lange unter den Teppich gekehrt. In den vergangenen 20 bis 30 Jahren ist sehr viel wissenschaftlich aufgearbeitet worden. Es gibt mittlerweile gut dokumentierte Untersuchungen und viele Gedenkstätten und Mahnmale – auch hier in Marburg. Es ist wichtig, dass das geschieht und die Erinnerung daran wachgehalten wird. Wir müssen auch die Beteiligung von Christen zugeben und aufarbeiten. Auf der anderen Seite dürfen wir das Böse nicht verharmlosen und so tun, als ob es das nicht gäbe. Ich persönlich glaube an die Existenz eines realen Teufels und echter Dämonen, und ich glaube auch, dass es heute noch Menschen gibt, die sich bewusst dem Bösen verschreiben. Wenn das zu kriminellen Handlungen führt und Menschen dadurch gefährdet sind, muss der Staat natürlich eingreifen. Es darf aber nicht zu einem neuen Hexenwahn kommen, bei dem viele Menschen wegen falscher und fadenscheiniger Behauptungen verdächtigt werden. Diese Zeiten sollten ein für alle Mal vorbei sein.
Vielen Dank für das Gespräch.
Frank Lüdke ist Professor für Kirchengeschichte an der Evangelischen Hochschule Tabor. Im Rahmen seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit zur Kirchengeschichte spielen Hexenverfolgungen immer wieder eine Rolle.