In Syrien soll es öffentliche Kreuzigungen durch die HTS-Miliz gegeben haben, der Miliz, die zum Sturz des Assad-Regimes beigetragen hat. Laut Christlichem Hilfsbund im Orient sind diese Berichte aber nicht bestätigt. Es sei zu Auseinandersetzungen der HTS mit alawitischen Kämpfern gekommen und habe auch Massaker an der Zivilbevölkerung gegeben. Aber Beweise für eine gezielte Massenhinrichtung von Christen gebe es nicht.
Die Organisation beruft sich dabei auf den syrischen Bischof Haroution Selimian. Der gut vernetzte Geistliche habe zwar Konflikte und Plünderungen bestätigt, bei denen es zu tragischen Zwischenfällen gekommen sei, aber zu keinen gezielten Hinrichtungen. Der Vorsitzender der Union der Armenisch-Evangelischen Gemeinden Syriens sieht aber „keine glaubwürdigen Informationen, die auf eine groß angelegte, auf dem Glauben basierende Verfolgung von Christen im Lande hindeuten“. Vor allem in Krisenzeiten verbreiteten sich Fehlinformationen sehr schnell. Umso wichtiger sei es, sich auf zuverlässige Nachrichtenagenturen und vertrauenswürdige Partner vor Ort zu verlassen.
Christof Lenzen, Mitarbeiter des Christlichen Hilfsbundes, erklärt gegenüber PRO: „Wo Verfolgung von Christen und Christinnen erfolgt, muss diese sachlich und differenziert beim Namen genannt werden. Wir verurteilen es deutlich, wenn mit KI Bilder oder Filme erzeugt werden, die etwas belegen sollen, was so nicht stattfindet. Das polarisiert und verfolgt sekundäre Interessen, die weder den Christen vor Ort noch dem Land selbst helfen.“ Zur aktuellen Situation in Syrien äußerte sich der Geschäftsführer und theologische Leiter des Christlichen Hilfsbundes, Andreas Baumann, gegenüber PRO.
Herr Baumann, der Sturz des syrischen Regimes ist noch gar nicht lange her. Jetzt ist das Land schon wieder in den Schlagzeilen. Wie ergeht es den Christen im Land?
Allgemein können wir sagen, dass die Christen nach wie vor zwischen Hoffen und Bangen leben. Sie hoffen, dass sich die Dinge zum Guten entwickeln und es jetzt etwa endlich wirtschaftlich aufwärts geht. Aber es ist auch viel Skepsis vorhanden, ob die neuen Machthaber für Sicherheit im Land sorgen können und ob sie trotz ihrer extremistischen Vergangenheit ihre Versprechen halten und weiterhin einen moderaten Weg gehen. In der Hauptstadt Aleppo gab es Versuche, die nicht-islamische Geschichte des Landes aus den schulischen Lehrplänen. Das ist ein typisches Vorgehen, wo Islamisten die Macht übernehmen. Das sind natürlich für die Christen Alarmzeichen.
Wie ist der aktuelle Konflikt zustande gekommen?
Auslöser war angeblich, dass Gefolgsleute des Assad-Regimes Sicherheitskräfte der neuen Regierung angegriffen und getötet haben. Diese haben dann massiv Verstärkung angefordert und nicht nur zurückgeschlagen, sondern auch grauenhafte Massaker an der Zivilbevölkerung verübt. Die Sicherheitskräfte der neuen Regierung bestehen aus Anhängern islamistischer Milizen, die vor kurzem noch als Terroristen galten. Dass ausgerechnet diese Extremisten für die Sicherheit im Land sorgen sollen, ist natürlich in sich hochproblematisch. Aus einem islamistischen Kämpfer wird normalerweise nicht einfach so über Nacht ein demokratisch gesinnter „Staatsbürger in Uniform“.
Warum ist hauptsächlich die Küstenregion betroffen?
Die betroffene Region ist eines der Hauptsiedlungsgebiete der alawitischen Minderheit, aus der auch der ehemalige Präsident Assad, sein Bruder und weitere wichtige Personen des Regimes stammen. Von daher gibt es dort tendenziell mehr Personen, die sich mit dem alten Regime identifizieren.
Was weiß man wirklich über den Konflikt und war er vorhersehbar?
Es haben sich zwar einige führende Vertreter des alten Regimes ins Ausland abgesetzt, aber es leben immer noch viele Menschen in Syrien, die Teil des Regimes von Assad waren: von echten Mittätern aus Überzeugung, über opportunistische Profiteure bis hin zu harmlosen Mitläufern. Sie sind mit dem Sturz des Regimes nicht einfach verschwunden. Wenn einmal der Prozess der Aufarbeitung und Strafverfolgung des Assad-Regimes beginnt, haben einige Leute alles zu verlieren. Deshalb wundert es nicht, dass sich einige mit allen Mitteln zur Wehr setzen gegen die neue Regierung.
Und der aktuelle Konflikt…
Der konkrete Gewaltausbruch war zu diesem Zeitpunkt nicht akut vorhersehbar, aber er kam auch nicht überraschend. Eigentlich hatten viele schon mit Auseinandersetzungen gerechnet, als die HTS-Miliz die Macht vom Assad-Regime übernommen hat. Es existiert eine lange zurückgehende blutige Feindschaft zwischen Assads Regime und syrischen Islamisten. Von daher wunderte es sehr, dass die Islamisten nach der Machtübernahme nicht sofort Rache genommen haben. Man muss die neue Staatsführung ausdrücklich dafür loben, dass sie das damals verhindert hat. Die Feindschaft sitzt natürlich weiter tief in den Köpfen. Von Anfang an war unklar, inwieweit die Machthaber diese Milizen wirklich im Griff hat. Als es jetzt einen Anlass dazu gab, hat sich dieses schlimme Rache-Potential in furchtbarer Weise Bahn gebrochen.
Ist ihre Organisation auch von der aktuellen Welle der Gewalt betroffen?
Nein, die meisten von uns unterstützten Menschen, die in Aleppo leben. Dort ist die Lage zwar auch volatil, Aleppo war aber nicht von den aktuellen Massakern betroffen. Auch auf unsere Arbeit hat das keinen Einfluss.
Was kann man dem entgegensetzen? Wie ist Versöhnung möglich?
Syrien steht vor einem langen Prozess, die Ereignisse der vergangenen Jahrzehnte aufzuarbeiten. Dazu gehören Wahrheitsfindung, Aufarbeitung, Bestrafung, aber auch Vergebung und Versöhnung. Ob das tatsächlich passieren wird, bleibt abzuwarten. Ein wichtiger Baustein ist die Bildungsarbeit. Es geht darum, in den Schulen eine neue Generation zu prägen, die dafür steht, die Vergangenheit zu überwinden und ein neues Syrien aufzubauen, indem alle ethnischen und religiösen Gruppen gleichberechtigte syrische Staatsbürger sind. Ob das ausgerechnet eine islamistisch geprägte Staatsführung aufbauen kann, bezweifle ich. Hier können die christlichen Schulen in Syrien, die oft von Schülern verschiedenster Religionsgruppen besucht werden, einen wertvollen Beitrag leisten.
Vielen Dank für das Gespräch.