Alexej Nawalny hat Zeit seines späten politischen Engagements immer wieder über seinen christlichen Glauben gesprochen. In seiner Autobiografie nimmt das Thema einen besonderen Platz ein.
Nawalny beschreibt seine Glaubensentwicklung darin als Weg vom Atheisten und Skeptiker zum Christen, ausgelöst durch die Geburt seiner Tochter Dascha: „Wie jeder, der in der Sowjetunion aufwuchs, hatte ich nie an Gott geglaubt, aber wenn ich mir Dascha ansah und wie sie sich entwickelte, dann mochte ich mich nicht länger mit dem Gedanken anfreunden, dass dies nur eine Frage der Biologie sei.“ Er habe in diesem Moment beschlossen, dass „die Evolution, für sich genommen, nicht ausreiche. Es musste noch etwas geben.“
„Die Bergpredigt ist ein Vergnügen“
Als Nawalny bei einer langen Inhaftierung 2021 nur noch die Bibel als Lesestoff erlaubt wurde, habe es ihm eine besondere Bibelstelle angetan: „Die Bergpredigt ist ein Vergnügen und ich beschloss, dass ich (…) sie ebenso gut auswendig lernen könnte.“ So habe er sich die 111 Verse auf Karten notiert, die er sich in der Haft mühsam über Monate beschaffen musste. Auf jeder Karte habe er einerseits die Nummer des Verses und andererseits die Worte in vier verschiedenen Sprachen notiert. Sein Ziel sei es gewesen, irgendwann anhand der Zahl auf der einen Seite, den Vers auf der anderen zitieren zu können. Nicht ganz einfach, denn die Karten seien bereits einmal konfisziert worden – die Wachen vermuteten extremistische Inhalte.

Auch Gottesdienste im Gefängnis habe er besucht. In einem sei es dann just um die Bergpredigt gegangen. Nawalny schreibt: „Lieber Jesus! Ich wäre um ein Haar in Ohnmacht gefallen, und unter enormen Schwierigkeiten gelang es mir, die Tränen so weit zurückzuhalten, dass sie mir nicht in Strömen die Backen hinunterflossen. Ich verließ wie betäubt und in der Luft schwebend die Kirche. Und nicht mehr hungrig.“ Denn zum Zeitpunkt des Gottesdienstes hatte er sich gerade in einen Hungerstreik begeben. Nawalny deutet diesen Vorfall als „wundersames Zeichen“. An anderer Stelle beschreibt er, wie ein Mithäftling ihm das Bild eines Engels überreicht, eine christliche Ikone, die er fortan bei sich trug.
Im Jahr 2021 zitierte Nawalny die Bibel gar vor Gericht, auch hier wieder die Bergpredigt. „Fakt ist, ich bin gläubig“, sagte er in seinem Schlusswort und zitierte das Bibelwort: „Selig sind, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit: denn sie sollten satt werden.“
Glaube macht das Leben einfacher
Im Buch bekennt er: „Der Glaube macht das Leben einfacher.“ Auch in der politischen Haft. „Du liegst in deinem Stockbett, schaust auf das Bett über dir und fragst dich, ob du im tiefsten Herzen Christ bist. Es ist nicht entscheidend, ob du glaubst, dass ein paar alte Männer in der Wüste einst achthundert Jahre alt wurden oder dass sich tatsächlich das Rote Meer vor jemandem teilte. Aber bist du ein Anhänger der Religion, dessen Gründer sich für andere opferte und den Preis für ihre Sünden zahlte? Glaubst du ehrlich an die Unsterblichkeit der Seele und das ganze andere coole Zeug? Wenn du aufrichtig mit ‚Ja‘ antworten kannst, worüber musst du dir dann noch Sorgen machen?“
Er sehe es als seine Aufgabe an, das Reich Gottes zu suchen. Jesus kümmere sich um alles andere und werde ihn nicht im Stich lassen. Er und Gott „werden für mich die Schläge einstecken“. Das sind die letzten Worte in Nawalnys Autobiografie. Aufgeschrieben am 22. März 2022. Er starb zwei Jahre später, am 16. Februar, im sibirischen Strafgefangenenlager Charp. Kritiker Putins werfen dem Regime vor, ihn ermordet zu haben.