Krieg in der Schule

Der Ukraine-Krieg mag trauriger Alltag geworden sein. Die Berlinale erinnert zu Recht an das Leid der Menschen: Unter anderem mit dem Wettbewerbsbeitrag „Strichka Chasu“, der zeigt, wie Schule in Zeiten von Bomben und Luftalarm funktioniert.
Von Anna Lutz

Drei Jahre nach dem russischen Angriff auf die Ukraine sind die Bilder in den Nachrichten, die Autos mit ukrainischen Kennzeichen in Deutschland und die politischen Streitigkeiten über die Unterstützung der Ukraine alltäglich geworden. So sehr, dass sich der ein oder andere daran gewöhnt haben mag. Die Berlinale hat sich in diesem Jahr dazu entschieden, den Ukrainekrieg nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Das zeigt unter anderem der dokumentarische Film „Strichka Chasu“, zu deutsch etwa: Zeitmarke. Ein Stempel also, der das Alter eines historischen Dokuments belegt. 

Gemeint ist hier wohl eher der bleibende Eindruck, den der Krieg auf die kommenden Generationen haben wird. Der Stempel, den er ihnen aufdrückt. Denn der Film der ukrainischen Regisseurin Kateryna Gornostai, die sich am Donnerstag sympathisch, nahbar und mit gelb-blauer Flagge in der Hand auf dem Roten Teppich der Berlinale zeigte, beschäftigt sich mit dem Schulalltag im kriegserschütterten Land. 

Dazu haben die Macher Schulen im ganzen Land besucht. Allein die Namen der Orte sind wegen der mit ihnen verknüpften Geschichten markerschütternd: Butcha. Bachmut. Kiew. Oder etwa eine Untergrundschule in Charkiv, wo sich die Kinder zwar treffen, aber, wie der Name schon sagt, unter der Erde. Genauer: In einem U-Bahn-Tunnel, der im Notfall auch als Bunker dienen kann. Während des Unterrichts haben die Kinder Blick auf die Bahnfahrer. 

Andernorts sind die Schulen in Gänze auf Onlineunterricht umgestiegen. „Strichka Chasu“ folgt einem Mädchen, das fein herausgeputzt die Schülerrede auf dem digitalen Schulfest ihres Abschlussjahrgangs hält – mit Kleid und Schmuck und doch nur digital zu sehen, so wie alle anderen auch. Es ist tief bewegend, wenn die Schulleitung den Teenagern eine gute Zukunft wünscht und das in einem Land, in dem sie sich derzeit nicht einmal treffen können, um voneinander Abschied zu nehmen. 

Bombenalarm und blinkende Schuhe

Anderswo finden Schulfeste in gewohnter Form statt – werden aber vom allgegenwärtig scheinenden Luftalarm unterbrochen. Grundschulkinder müssen sich dann möglichst schnell über enge Treppen in Luftschutzbunker retten. Und die Lehrer sind herausgefordert, das ohne Panik oder Chaos anzuleiten. Im Dunkel des Bunkers zeigen sich die kleinen Mädchen gegenseitig ihre batteriebetriebenen blinkenden Schuhe. Weil Kinder eben auch im Krieg Kinder bleiben.

Obwohl die Szene niedlich und irgendwie beruhigend wirkt, schließlich suggeriert sie ein Stück Normalität im Kriegsalltag, nimmt die Dokumentation das Thema alles andere als leicht. Das wird klar, als ein Mädchen in ihrer Schule scheinbar aus dem Nichts heraus in Tränen ausbricht. Die Lehrerin erklärt: Sie hat in der Schulgalerie für gefallene Kriegshelden das Bild ihres Vaters entdeckt. 

Andernorts wird eine Schulleiterin zu Grabe getragen. Sie ist bei einem Bombenangriff auf ihre Einrichtung gestorben. Das Gebäude liegt in Trümmern. Zum Abschied von der Lehrerin läuten die Kinder per Hand die Schulglocke. 

Welchen Stempel hinterlässt der Krieg?

„Strichka Chasu“ vermeidet es, auf die Tränendrüse zu drücken. Muss der Film auch nicht. Denn der Alltag im Krieg für Kinder ist von solch tragischer Dualität, dass allein das sich ins Gedächtnis einbrennt. Da übt der Abschlussjahrgang einen Tanz fürs anstehende Fest. Da erklärt eine Soldatin an der Schule, warum die Armee schon bald ein guter Ort für sie sein könnte. Da lernen Teenager, wie sie Aderpressen anlegen und Gewehre bedienen. Da sind Gedenkminuten für Gefallene Standard. Ebenso wie Luftalarm und Online-Matheunterricht. Und Selfies aus Freude zur bestandenen Prüfung.

Wer diesen Film sieht, fragt sich auch wegen des Titels: Welchen Stempel wird dieser Krieg auf den Kindern und Jugendlichen hinterlassen? In welche Zukunft gehen sie? Eine Frage, die angesichts der Bilder, die Kateryna Gornostai, selbst junge Mutter, zeigt, wahrlich das Herz zerreißt. Besonders dann, wenn die Kinder in einer Szene gemeinsam ein Lied mit singen, in dem es heißt: „Ich verfluche den Krieg.“ 

Foto: Blue Monticola Film
Eine zerstörte Kirche im Film „When Lightning flashes over the Sea“

Thematisch ähnlich ist der Film „When Lightning flashes over the Sea“, der nicht im Wettbewerb, sondern in der Kategorie „Forum“ läuft. Auch er begleitet Ukrainer im Krieg, in diesem Fall allerdings quer durch die Gesellschaft und ausschließlich in der Stadt Odessa. Er zeigt gänzlich unkommentiert, wie Messen in zerbombten Kirchen abgehalten werden. Einen tanzenden Jungen vor der Ruine einer Kathedrale, das Flatterband benutzt er wie ein Gymnastikband in der rhythmischen Sportgymnastik. 

Eine gealterte Jüdin erzählt vom Holocaust und wiederholt immer wieder einen Satz. „Dank sei Gott.“ „Dank sei Gott.“ Dass sie überlebt habe, während so viele sterben mussten. Und dann ist da noch der schlichte ukrainische Alltag: Frauen trinken Kaffee auf dem Balkon. Straßenverkäufer spielen Backgammon. Ein Musiker spielt Schifferklavier in einer Fußgängerzone. Menschen führen am späten Abend ihre Hunde Gassi. Bis der Einschlag von Bomben ertönt. Und die Sirene des Luftalarms erklingt. 

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