„Wir müssen mehr wie Jesus werden“

Die Kirche muss danach fragen, was Gott möchte, sagt der sächsische Landesbischof Tobias Bilz im PRO-Interview. Er erklärt, warum ihm Einheit unter Christen wichtig ist und welche Antwort sie auf die Ängste dieser Zeit haben.
Von Jonathan Steinert
Landesbischof Tobias Bilz

PRO: Sie sind in einem lutherischen Pfarrhaushalt großgeworden, geistlich hat Sie aber auch die charismatische Bewegung geprägt. Wie passt das zusammen?

Tobias Bilz: Bei der charismatischen Frömmigkeit spricht mich besonders an, dass Menschen sich nach dem konkreten Wirken Gottes ausstrecken und schauen, wie Gott uns führen will. Diese Frage ist extrem wichtig, auch in unserer Zeit. Man kann sich nun fragen, wie diese Form der Frömmigkeit in die lutherische Tradition hineinpasst. Bei einer charismatischen Pfingstkirche läuft oft alles stark auf einen Leiter hinaus, der Träger einer Vision ist, der die prophetischen Impulse empfängt und sagt, wo es entlang geht. Wir ­Lutheraner sagen aber: Priestertum aller Getauften. Gott spricht aus jedem. Und er macht das völlig verschieden.

Bei der „Unum“-Konferenz zur Einheit der Christen im vorigen Jahr haben Sie in Ihrer Predigt betont, Christen müssen sich mit all ihren Unterschieden und auch Gegensätzlichkeiten anerkennen. Warum ist das für Sie so ein wichtiges Thema?

Uneinigkeit ist wie ein Riss in einem Gefäß. Spannungen gibt es immer. Aber wenn Risse entstehen, fließt unser Segen fort. Ich kann für mich selber sagen: Die Abflüsse an Kraft, auch an Freude, an Licht, die wir in Konflikten erleben – sie lohnen den Kampf um Richtig und Verkehrt oft nicht. An ganz vielen Stellen ist er völlig unverhältnismäßig. Das Zusammenkommen ist mir wichtig, damit wir diese Risse schließen und das Gefäß funktioniert. Ich denke – jetzt rede ich ganz menschlich von Gott – dass Gott uns manchmal in unseren Konfessionen nicht mehr segnen kann, weil wir mit Recht­haberei zu tun haben.

Die derzeitigen Krisen der Christenheit haben auch damit zu tun, dass sich die Gläubigen immer weiter aufspalten in verschiedene Konfessionen und Denominationen?

Ich bin nicht sicher, was Ursache und Wirkung ist. Ein guter Freund von mir sagt, und zwar genau in dieser Reihenfolge: Die Gesellschaft ist auch ein Abbild dessen, was sich in der Kirche abspielt. Spannung, Streit, Trennung bei der Kirche – ich wage zu sagen, dass sich das auch auf die Gesellschaft auswirkt. Und dann gibt es bestimmt auch den gegenteiligen Effekt. Vor einigen Jahren gab es in Chemnitz einen rechtsradikalen Übergriff und eine riesige Aufregung darüber. Bei einer späteren Gelegenheit fragte ich Vertreter der Stadt, was sie denn von der Kirche erwarten. Und da sagten mir Menschen, die keine Christen waren: „Ihr wisst doch, wie man mit Gegensätzlichkeiten und Spannungen umgeht. Zeigt uns, wie das geht, dass wir zusammenbleiben, obwohl wir verschieden sind.“

Die Folge dieser Überlegung wäre, die Grenzen zwischen den Landes­kirchen und den verschiedenen Freikirchen, aber auch zu anderen Konfessionen abzubauen. Ist das Ihr Ziel?

Ein sehr praktikabler Begriff ist das, was die „Leuenberger Konkordie“ beschreibt, ein Verständigungspapier zwischen evangelischen Kirchen: Ihre Einheit ist „versöhnte Verschiedenheit“. Das gefällt mir als Leitbild für den Umgang der Kirchen untereinander sehr gut. Gott macht den Kirchen verschiedene Erkenntnisgeschenke. Wir müssen immer wieder schauen, was hat Gott uns anvertraut – und was den anderen. 

Was ist das Eigene der Evangelisch-Lutherischen Kirche Sachsens? 

Dass wir einen gnädigen Gott haben, der prinzipiell sagt: „Ich lege dich nicht auf deine Schuld fest. Sondern ich sehe in dir das Ebenbild Gottes. Ich möchte es zur Geltung bringen. Du bist geliebt und angenommen.“ Das Wissen um Gnade bedeutet auch eine gewisse Gelassenheit im Umgang mit Unvollkommenheit.

„Jesus war an vielen Stellen anders, als die Kirche heute denkt.“

Es gibt von freikirchlichen Christen oft das Vorurteil gegenüber den Landeskirchen, dass es dort theologisch zu liberal zugeht und mehr über Politik als über Jesus gesprochen wird. Zu Recht?

Als Kirche und als Christen handeln wir im Namen und im Auftrag von Jesus. Und als Christen brauchen wir, egal in welcher Position, eine ganz starke persönliche Verbindung zu Jesus Christus selber, um in seinen Fußstapfen zu sein. Ich würde von mir sagen, ich bin ausgesprochen ­jesuanisch. Ich lese die Texte über Jesus mit großer Begeisterung. Und ich ahne auch, dass wir in Zukunft eher mehr wie Jesus werden müssen. Er war an ganz vielen Stellen anders, als die Kirche heute denkt.

Inwiefern?

Wenn er mit Menschen zusammen war, hat er zuerst gefragt: „Was willst du, dass ich dir tun soll?“ Jesus hat, soweit ich sehe, nicht zu Veranstaltungen eingeladen. Er hat sich selber einladen lassen. Jesus hat auch nicht zum Glauben eingeladen, sondern zur Nachfolge gerufen. Er hat Menschen ohne Anspruch gedient. Wir machen es leider anders: Es fällt uns schwer, Menschen in die Nachfolge zu rufen. Es fällt uns aber genauso schwer, ganz selbstlos zu dienen, einfach nur Salz der Erde und Licht der Welt zu sein und dabei keine Ansprüche an andere zu erheben.

Was bedeutet das für die konkrete Arbeit von Kirchen und Gemeinden?

Jesus hat mal gesagt: „Es ist meine Speise, dass ich den Willen meines Vaters im Himmel tue.“ Jesus hatte eine Ahnung davon, was sein Vater im Himmel wollte. Das würde für uns bedeuten: Wir bräuchten ein Gespür dafür, herauszufinden, was Gott von uns möchte. Und wir müssen skeptisch sein, wenn die Aktivitäten, die wir entfalten, uns nicht nähren, sondern auszehren.

Die Kirche wird insgesamt kleiner. Es gibt weniger Ressourcen, auch weniger Personal. Was hilft Ihnen, in dieser Situation der begrenzten Mittel nicht den Mut zu verlieren?

Im Osten sind wir schon länger gewohnt, in einer deutlichen Minderheitensituation zu sein. Wir sind hier etwas gelassener bei dem Gedanken, dass die Anzahl der Menschen zugleich etwas über ihre Wirksamkeit aussagt. Ich habe in meinem letzten Geschäftsbericht für das vergangene Jahr diesen Satz aus der Offenbarung vorangestellt „Du hast eine kleine Kraft“ aus dem Sendschreiben an die Gemeinde in Philadelphia.

Die geistliche Großwetterlage in Mitteleuropa ist eben im Moment nicht so, dass der christliche Glaube wächst. Wer denkt, man müsse nur eine bestimmte Maßnahme ergreifen, und die Leute kommen wieder in die Kirche, übersieht diesen Trend. In solchen Zeiten lese ich Texte, in denen es um Haushalterschaft geht, in der Berufung treu bleiben, durchhalten, auch wenn es schwierig ist. Und zugleich ist da immer wieder die Frage an Gott: Was ist gerade los und was sollen wir tun?

Zur Person

Tobias Bilz, Jahrgang 1964, wuchs in einem Pfarrhaushalt in Sachsen auf. Bevor er selbst Theologie studierte, machte er eine Ausbildung zum Instandhaltungsmechaniker. Seine erste Pfarrstelle hatte er in Erlbach-Kirchberg am Rande des Erzgebirges. Dort hat er auch den Autor dieses Interviews konfirmiert. 2007 wechselte er als Landesjugendpfarrer nach Dresden. Ab 2019 war er im Landeskirchenamt Dezernent für Gemeindeaufbau und Seelsorge, seit März 2020 ist er Landesbischof. Er hatte sich bereits 2015 um das Bischofsamt beworben, unterlag in der Stichwahl aber Carsten Rentzing. Seit 2021 gehört er dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland an, seit vorigem November ist er stellvertretender Vorsitzender. Bilz ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder.

Die Medien berichten über die Kirche fast nur im Zusammenhang mit Missbrauch oder wenn die Mitgliederzahlen vorgestellt werden. Wie kommt die inhaltliche Botschaft der Kirche noch stärker in die Öffentlichkeit?

Das geschieht durchaus, aber dafür gibt es nicht so viel Aufmerksamkeit. In Dresden hatten wir am 23. Dezember auf dem Neumarkt vor der Frauenkirche eine Christvesper – zum 32. Mal. Da waren mehr als 13.000 Menschen da und noch einmal mehr als 300.000 Leute vor den Fernsehgeräten. Ich nehme auch wahr, dass die Veranstaltungen zum Jahreswechsel dieses Jahr in vielen Gemeinden sehr gut besucht waren. Wir haben die Kampagne „Mit Herz und Verstand“ zur Bundestagswahl gestartet, die auch bundesweit übernommen wurde. Mein Eindruck ist, dass die Gesellschaft hinschaut: Wofür steht die Kirche? Wir erzeugen auch als kleiner werdende Kirche einiges an Wirkung.

Warum war es Ihnen ein Anliegen, bereits die Landtagswahl im vorigen Herbst und nun die des Bundestages in einer Kampagne zu thematisieren?

Der gesellschaftliche Stimmungsumschwung hin zu eher nationalem Denken, das Menschen trennt und klassifiziert, geht mit dem Evangelium nicht zusammen. Paulus schreibt: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, nicht Mann noch Frau, nicht Sklave noch Freier.“ In der frühchristlichen Gesellschaft waren soziale Schranken und Trennungen normal. In der Gemeinde werden sie überwunden. Christlicher Glaube denkt nicht national, er unterscheidet nicht zwischen den Geschlechtern und er überwindet soziale Spannungen. Wir sind als Christen besonders aufmerksam, wenn es Entwicklungen in einem Staat gibt, die diese Schranken stark machen.

„Wir könnten es als Gesellschaft neu brauchen, aus Gottvertrauen heraus zu handeln.“

Sie haben in einem Interview gesagt, man müsse mit den Menschen reden, warum sie der AfD ihre Stimme geben. Was haben Sie erfahren?

Es herrscht eine Stimmung vor, dass es nicht so weitergehen kann, wie es gerade ist. Diese Unzufriedenheit muss ausgesprochen und eingeordnet werden können. Dahinter stecken ja konkrete Ängste. Ich denke, dass man das nicht nur mit einer Gegenmeinung überwindet. Haltungen verstärken sich oft, wenn man Druck ausübt.

Wir haben jetzt die Initiative „Verständigungsorte“ gestartet. Dabei sollen Gelegenheiten geschaffen werden, wo Menschen das, was sie beschäftigt, aussprechen dürfen und dass man Verständnis versucht zu gewinnen. Wir ahnen doch alle, dass sich das Leben, wie wir es die letzten Jahrzehnte hatten, gerade transformiert in etwas Neues hinein. Das macht immer einer großen Anzahl von Menschen Angst. Aber rückwärts­gewandte Reflexe helfen eben nicht.

Können Christen auf diese Ängste eine besondere Antwort geben?

Ja. Als Christen leben wir von der großen Erzählung, dass wir durch diese Welt hindurch ins Reich Gottes gehen und dass uns auf diesem Weg das Reich Gottes entgegenkommt. Schon in unserem menschlichen Leben berühren wir Äußerungen des Reiches Gottes. Aber insgesamt warten wir auf einen neuen Himmel und eine neue Erde. Wenn man von dieser großen Erzählung lebt, verlieren die Lebensumstände ein wenig an Macht. Die Aufklärung und auch der Kommunismus haben gesagt: Wir müssen das hier auf der Erde alles selber machen.

Aber jetzt haben wir es mit einer Reihe von Fragestellungen zu tun, wo die meisten Menschen spüren, dass diese Erzählung der Aufklärung auserzählt ist und eine große Ratlosigkeit herrscht. Die Grunderzählung der Christen handelt nicht von einer perfekt gestalteten Welt, in der alle glücklich sind. Wir müssen durch viele Bedrängnisse in das Reich Gottes eingehen. Das hat auf persönlicher Ebene schon immer gegolten, wenn jemand krank war oder einen Schicksalsschlag hatte. Jetzt könnten wir es auch als Gesellschaft insgesamt neu brauchen, aus Gottvertrauen heraus zu handeln. Das könnte Kräfte und Ideen freisetzen, die anliegenden Probleme zu bewältigen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Dieses Interview ist in der Ausgabe 1/2025 des Christlichen Medienmagazins PRO erschienen. Sie können das Heft hier kostenlos bestellen.

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