So stellt man sich Sehnsucht nach Heimat vor: Syrische Anhöhen, eine Schafherde, die Sonne steht tief, ein Ehepaar teilt sich Brot und Käse, im Off erzählt eine alte Frau ein Märchen über Liebe, Schönheit, Traurigkeit und Granatäpfel. So wiederum wurde das Thema selten bebildert: Eine Hallig in Schleswig-Holstein. Sturm zieht über der Marschinsel im Wattenmeer auf, die Grashalme wehen bedrohlich und wunderschön im Wind. Wasser beginnt, die Wiesen zu übersteigen, schon bald wird hier alles überflutet sein, während die Möwen ihre Kreise ziehen.
Beides – die syrische Anhöhe, wie auch die Hallig mit ihrer grasgrünen Rauheit – ist Heimat im Film „Yunan“, einem von zwei deutschen Wettbewerbsbeiträgen der diesjährigen Berlinale. In diesem Fall sogar eine arabisch-europäisch-kanadische Koproduktion, was man dem Film deutlich abspürt. Der Syrer Munir (Georges Khabbaz) lebt im deutschen Exil. Er hat einen Hund, eine deutsche Geliebte, arbeitet in seiner kleinen Wohnung an einem Buch.
Und doch plagt ihn die Sehnsucht nach Zuhause. Immer wieder träumt er sich fort zu den sepiafarbenen Anhöhen Syriens, an den Essenstisch eines einfachen Bauernhauses oder auf das Sofa der Mutter, die ihm wieder und wieder dasselbe Märchen erzählt, während er seinen Kopf auf ihre Beine legt.
Die Realität hingegen ist brutal: Munir erreicht seine demente Mutter in Syrien nur per Onlinetelefonie – ohne dass sie ihn wiedererkennen würde. Ständig hat er Panikattacken, glaubt, keine Luft zu bekommen. Sein Arzt rät ihm, eine Auszeit zu nehmen und Munir beschließt – was könnte deutscher sein – auf eine Hallig in Schleswig-Holstein zu reisen.
Fremder zwischen Sturm und Schantys
Im Gasthaus angekommen, verweigert die seltsam entrückte Hausherrin Valeska (Hanna Schygulla) ihm zunächst den Zutritt. Er hat – was könnte undeutscher sein – nicht vorab reserviert. Schließlich überlässt sie ihm dann doch das renovierungsbedürftige Gästehaus und ebnet damit den Weg für ein wunderbares Kennenlernen. Während die beiden sich beim abendlichen Tee am Kamin annähern, hat Valeskas Sohn Karl (Tom Wlaschiha) wenig übrig für den Neuankömmling, der in der Kulisse der Hallig auch beim integrationsfreundlichsten Zuschauer immer wirkt wie ein Fremdkörper.
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Schnapps-trinkende, schlager-singende, platt-sprechende und zum Kräftemessen auf der Wiese ringende Männer, die am Nachmittag im Hobbyraum zusammensitzen, weil es auf diesem Fleckchen Erde wirklich gar nichts anderes zu tun gibt – und Munir mittendrin. Doch: Nach und nach gewinnt er sie für sich, bis er schließlich wirklich dazugehört und sogar arabische Musik statt Schantys erklingen. Oder doch nicht?
Es ist eine Eigenheit von Ameer Fakher Eldins Film „Yunan“, dass der Zuschauer nie so ganz genau weiß, was wahr ist und was Munir sich herbeiträumt. Gelingende Integration und bereichernde multikulturelle Freundschaften – wie schön wäre es, wenn es das wirklich gäbe. Eine oft gehörte, aber selten so schön in Bilder gepackte Botschaft. „Yunan“ gelingt noch etwas anderes: Der Film nimmt den Zuschauer mit in Munirs Welt, lässt den Geflüchteten ganz und gar zum Erzähler werden und reduziert ihn nicht wie so oft auf seine Flucht.
Regisseur Eldin fragt: Was ist Heimat? Und antwortet mit wunderschönen Bildern Norddeutschlands sowie arabischen Tönen, Liedern, Geschichten. Ein wunderbarer, selten so gesehener Zweiklang, der eine Hoffnung auf die Kinoleinwand bringt: Im Miteinander liegt etwas Bereicherndes, besonders dann, wenn die Herkunftswelten verschieden sind. Es ist keine populäre Botschaft in den Tagen eines Wahlkampfes, in dessen Zentrum die Migrationspolitik steht. Und doch eine notwendige.
Syrerin bringt das Licht
Auch Tom Tykwers Berlinale-Eröffnungsfilm erzählt die Geschichte einer Geflüchteten. Doch bei weitem nicht nur das. „Das Licht“ rückt die Patchwork-Familie Engels in den Mittelpunkt: Tim (Lars Eidinger), seine Frau Milena (Nicolette Krebitz), die Zwillinge Frieda und Jon (Elke Biesendorfer, Julius Gause) sowie Milenas Sohn Dio (Elyas Eldridge). Jeder von ihnen lebt in seiner eigenen Welt: Tim ist als Texter erfolgreich, bis er irgendwann gefeuert wird. Milena will ein Entwicklungshilfeprojekt in Kenia realisieren, doch die Politik streicht ihr die Mittel. Frieda ist Teil einer Klimaschutzbewegung à la „Letzte Generation“ und experimentiert mit Drogen. Jon zockt Online-Games und hat im Netz seine erste große Liebe kennengelernt. Der kleine Dio schließlich fühlt sich zerrissen, hängt irgendwo zwischen Vater und Mutter, hasst und liebt sie alle zugleich und weiß nicht, wo er hingehört. Auch deshalb lässt Tykwer ihn wohl permanent Queens Hit „Bohemian Rhapsodie“ singen. Nichts vertont eine gespaltene Seele besser.
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In dieses ohnehin schon sehr volle Setting kommt dann noch Haushälterin Farrah (Tala Al-Deen), eine Geflüchtete aus Syrien. Sie sorgt nicht nur für Ordnung in der Berliner Altbauwohnung, sondern auch in den Beziehungen ihrer Arbeitgeberfamilienmitglieder. Dabei hilft ihr ein seltsames, auf psychologische Expertise zurückgehendes Licht, das bei Meditation Kontakt zu Verstorbenen ermöglichen soll.
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Schon diese Story macht klar: Tykwers Film ist vor allem eines: sehr, sehr voll. Da wird geschimpft, getanzt, gesungen, geflucht und geliebt. Das ist unterhaltsam, groß in Szene gesetzt und einer Berlinale-Eröffnung mehr als würdig. Und doch geht in all dem Vielen das so Elementare unter: Farrah und ihre Geschichte ebenso wie die Antwort auf die Frage, die Tykwer selbst als Auftakt seines Films stellt: Wie kann familiäres Zusammenleben heute gelingen? Was rettet eine dysfunktionale Familie? Weder Farrahs Anwesenheit noch ihr seltsames Licht können eine ausreichende Antwort sein. Auch wenn die etwas zu simple Botschaft eindeutig ist: Angst vor Zuwanderung muss niemand haben. Sie ist ein Segen.