Der Begriff der „Brandmauer“ hat eine lange Geschichte. Im Jahr 2018 – also bevor Friedrich Merz Parteichef der CDU wurde – beschloss der Parteitag selbiger: „Die CDU Deutschlands lehnt Koalitionen und ähnliche Formen der Zusammenarbeit sowohl mit der Linkspartei als auch mit der Alternative für Deutschland ab.“ Zwei Jahre später konkretisierte das CDU-Präsidium: „Für die CDU Deutschlands gilt: Es gibt keine Zusammenarbeit mit der AfD – weder in direkter noch in indirekter Form.“
Dieser Grundsatz ist ebenso richtig, wie historisch begründet. Er entstammt den Erfahrungen des aufkeimenden Nationalsozialismus in Deutschland. Im Jahr 1930 etwa entschloss sich die Deutsche Volkspartei in Thüringen entgegen der Warnungen aus dem linken Lager, eine gemeinsame Regierung mit der NSDAP einzugehen. Eine anderweitige Mehrheitenbildung wäre schwierig gewesen. Erstmals wurde ein Gefolgsmann Hitlers Minister, er hieß Wilhelm Frick und setzte in seiner kurzen Amtszeit strategische Anliegen der Nazis durch.
Hätte es damals eine Brandmauer gegeben, wäre die NSDAP dann wenige Jahre später ebenso erfolgreich gewesen, wie die schreckliche Geschichte Deutschlands es zeigt? Oder hätte eine Ächtung sie so sehr geschwächt, dass alles anders verlaufen wäre? Schwer zu sagen, sicher ist: Die Notwendigkeit des Boykotts jeglicher Zusammenarbeit mit Rechtsextremen ergibt sich für die meisten wohl auch aus dieser historischen Erfahrung. Es ist gut, dass die Union sich selbst dazu verpflichtet hat.
Lassen Sie uns über Migrationspolitik streiten!
Nun erklären SPD, Grüne, ja sogar die Kirchen, die Brandmauer drohe zu fallen, weil die CDU nicht ausschließen will, dass die AfD bei Anträgen zur Eindämmung von Migration ebenfalls die Hände heben lässt. Am Mittwoch wird die Union zunächst zwei weitreichende Entschließungsanträge zur Abstimmung bringen, darin geht es um die ganze Palette restriktiver Maßnahmen zur Begrenzung von Migration. Aberkennung des Doppelpasses, Grenzkontrollen, Ausbau der Kompetenzen der Sicherheitsbehörden, mehr sichere Herkunftsländer schaffen, nach Afghanistan und Syrien abschieben und so weiter. Am Freitag folgt dann eine Abstimmung über das Zustrombegrenzungsgesetz, also das weitgehende Ende des Familiennachzugs.
Politisches Handeln ist dieser Tage gefordert, da sind sich alle Parteien einig. Die Tat von Aschaffenburg lässt nichts anderes zu. Selbstverständlich muss niemand die Unionsvorschläge gut finden. Politik lebt von der Debatte. Also, bitte: Lassen Sie uns über Migrationspolitik streiten! Doch stattdessen sprechen wir fast ausschließlich darüber, dass die Brandmauer bröckelt, für viele fällt sie mit der kommenden Abstimmung im Bundestag.
Nicht etwa, weil die Union hier mit der AfD zusammen einen Antrag ausgearbeitet hätte. Das weist Merz von sich. Im Gegenteil, er ließ sogar noch die Sätze hineinschreiben: „Die AfD nutzt Probleme, Sorgen und Ängste, die durch die massenhafte illegale Migration entstanden sind, um Fremdenfeindlichkeit zu schüren und Verschwörungstheorien in Umlauf zu bringen. Sie will, dass Deutschland aus EU und Euro austritt und sich stattdessen Putins Eurasischer Wirtschaftsunion zuwendet. All das gefährdet Deutschlands Stabilität, Sicherheit und Wohlstand. Deshalb ist diese Partei kein Partner, sondern unser politischer Gegner.“
Anliegen wird nicht undemokratisch, weil die AfD die Hände hebt
Die AfD will dennoch zustimmen und allein in dieser Zustimmung soll nun das Problem liegen. Im Rückschluss bedeutet das: Die AfD diktiert den Diskurs. Wenn politische Anliegen nur deshalb als undemokratisch definiert werden, weil die AfD ihnen zustimmt, dann obliegt es allein ihr, festzulegen, was demokratisch und was undemokratisch ist. Zwei weitere Beispiele: Die Union ist für die Beibehaltung der jetzigen Abtreibungsgesetze. Wird dieses Anliegen undemokratisch, nur, weil die AfD das auch fordert? Die Union will Prostitutionsgesetze verschärfen. Entschiede sich die AfD dazu, einem solchen Antrag zuzustimmen, machte allein das das Gesetzesvorhaben problematisch? Mitnichten. Allein das könnte man Merz vorwerfen: Tatsächlich erklärte er nach dem Ampel-Aus, sich mit den demokratischen Parteien im Parlament über Anträge abstimmen zu wollen. Das ist jetzt wohl nicht geschehen. Oder gescheitert.
Doch das ist nicht der Kern der Kritik. SPD und Grüne werden nicht müde zu erklären, die Union setze nun auf die Stimmen der AfD, denn ohne diese könnten sie ihre Anträge nicht durchbringen. Das ist schlicht nicht wahr. Es gibt fünf Fraktionen im Bundestag und zu diesem Zeitpunkt eine Minderheitenregierung. Die Stimmen von FDP, Grünen und SPD, ja sogar von den Abgeordneten des BSW und der Linken-Gruppe sind doch ebenso gewichtig wie die der AfD. Jeder darf hier ganz demokratisch zustimmen oder nicht. Nicht die AfD ist das Zünglein an der Waage. Jede Fraktion kann das sein. Zudem hat Olaf Scholz selbst noch vor zwei Jahren in der „Thüringer Allgemeinen“ erklärt, es gelte nicht als „Zusammenarbeit“, wenn selbst eingebrachte Anträge Zustimmung der AfD fänden. Nun im Wahlkampf sieht er das freilich anders.
Es geht längst nicht mehr um die Sache
Es ist beschämend, dass die Debatte um Migration und das Prozedere der Antragsabstimmung so kurz vor der Wahl niemandem, aber auch wirklich niemandem hilft, außer der AfD selbst. Dahinter steckt eiskaltes Kalkül von Alice Weidel und Co. Aber auch die Tatsache, dass sich alle demokratischen politischen Kräfte im Deutschen Bundestag unfähig zeigen, eine ernste Debatte über Zuwanderung überhaupt auch nur zu führen. Kein Satz darf fallen, der nicht mindestens die Abgrenzung zur AfD enthält. Kein Vorschlag soll gemacht werden, der einem der AfD in groben Linien ähneln könnte. Kein Rechtsaußen soll bei einer Abstimmung die Hand heben können, das scheint die Messlatte für Demokratie geworden zu sein.
Es geht längst nicht mehr um die Sache, es geht um größtmögliche Distanz zur AfD. Das aber gibt letzterer das Heft des Handelns in die Hand und erlaubt ihr darüber hinaus, sich als Retter in der Migrationsnot zu gerieren, damit noch mehr für sie an die Wahlurne treten. Der missbräuchliche Gebrauch des Begriffs Brandmauer ist zum Wahlhelfer der AfD geworden. Was für eine Farce.