Kommentar

Auch heute sind Menschen zu Auschwitz fähig

Vor 80 Jahren wurde das Vernichtungslager Auschwitz befreit. Es braucht die Erinnerung an die grausame Unmenschlichkeit der Nazis. Denn auch heute wären Menschen zu Auschwitz fähig.
Von Jonathan Steinert
KZ Auschwitz

Auschwitz. Schon allein Name dieses Ortes im Süden Polens erinnert an die beispiellose Unmenschlichkeit der Nationalsozialisten. Hier betrieben sie das größte Konzentrations- und Vernichtungslager. Diesen Begriff muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Ein Lager, das dazu dient, Menschen zu vernichten. Mehr als 1,3 Millionen Menschen, zu 90 Prozent Juden, wurden hierher deportiert. Fast alle starben – vergast, erschossen, misshandelt, verhungert, entkräftet. Als die Rote Armee das Lager vor 80 Jahren befreite, fand sie noch 8.500 Häftlinge vor.

Diese Zahlen allein sind mit dem Verstand kaum zu fassen. Und doch sind damit noch nicht einmal die Hälfte der Juden gezählt, die unter der Nazi-Herrschaft ermordet wurden. Man muss sich das immer wieder vor Augen führen. Denn allzu schnell neigen wir dazu, das Geschehen als irgendwie bekannt abzuhaken: Ja, das war schlimm, aber ist auch lange her.

So leicht dürfen wir es uns heute nicht machen. Im Gegenteil: Es wird je länger je mehr Mühe kosten, an diese Verbrechen zu erinnern. Denn es gibt immer weniger Menschen, die davon noch selbst berichten könnten. Je weiter es zeitlich entfernt liegt, desto schwächer dürfte das Bewusstsein dafür werden, dass der Holocaust und das, was ihn ermöglichte, unser Land bis heute tiefgreifend prägt – sowohl die politische Ordnung als auch die gesellschaftlichen Debatten. Er gehört zur Identität Deutschlands.

Deshalb dürfen wir nicht aufhören, uns damit auseinanderzusetzen. Die heutigen Generationen sind nicht schuld an den Verbrechen der Nazis. Aber sie sind schuld, wenn menschenverachtende Ideologien wieder Raum gewinnen und Zuspruch erfahren. Es wäre hochmütig, anzunehmen, dass Menschen in der modernen westlichen Welt heute zu Auschwitz nicht mehr fähig wären. Aus diesem Grund ist es auch wichtig, die Mechanismen zu verstehen, die das möglich gemacht haben. Von der systematischen Ausgrenzung der Juden aus der Gesellschaft bis dahin, sie in der Sprache und im Umgang zu entmenschlichen. Wer dann erst einmal daran glaubt, dass bestimmte Menschen unterklassig und wertlos, ja, Tiere sind, der wird kein schlechtes Gewissen dabei haben, sie unmenschlich zu behandeln.

Gefährliche Ausreden

Zum Holocaust-Gedenktag lief auf dem Sender Arte der unbedingt empfehlenswerte Film „Die Ermittlung“ nach dem gleichnamigen Theaterstück. Er ist nach wie vor in voller Länge von rund vier Stunden sowie als elfteilige Serie in der Mediathek zu sehen. Der Film zeichnet den Frankfurter Auschwitz-Prozess in den 60er Jahren nach. Er basiert auf Gerichtsprotokollen – und besteht hauptsächlich aus gesprochenem Wort. Zeugen berichten dem Richter nüchtern, was sie im Lager erlebt haben, von der Rampe, an denen die mit Menschen vollgestopften Viehwaggons ankamen, bis zum Krematorium. 18 Angeklagte müssen sich für Beteiligung am Massenmord verantworten. Gerade diese reduzierte Form macht den Inhalt so eindringlich.

Die Aussagen der Überlebenden erschüttern, weil sie die Grausamkeit, Willkür und Erniedrigung vor Augen führen. Die Aussagen der Angeklagten erschüttern, weil sie all dies so frappierend leichtfertig wegreden und verharmlosen: Dem einen kamen die vielen Waggons und der Rauch aus den Krematorien nicht komisch vor, er will von alledem nichts gewusst haben. Ein anderer hat nur seinen Job gemacht, ein nächster behauptet, er selbst habe alle Menschen ordentlich behandelt. Und mancher glaubte daran, dass eben getan werden musste, was getan werden musste.

Diese Ausreden machen es so gefährlich: Gefährlich in dem Sinne, dass sie die unfassbare Unmenschlichkeit von Auschwitz menschlich entschuldigen. Und gefährlich auch in dem Sinne, als sie die grundsätzliche Neigung der menschlichen Natur offenbaren, sich hinter Ignoranz, Befehlen oder anderen Ausflüchten zu verstecken, um keine Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen. Diese Neigung hatten nicht nur die Nazis. Die steckt in allen. Darum müssen wir sie uns immer wieder bewusst machen und daran erinnern, wohin sie führen kann. Die Verantwortung dafür hat ebenso jeder Einzelne. Einen Schlussstrich unter Auschwitz kann es nicht geben.

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