„Gott handelt nicht wie ein Puppenspieler“

Michael Brems ist Krankenhausseelsorger. Im Interview berichtet er, wie sein Glaube sich in der Seelsorge verändert hat, wann er mit Patienten betet – und wie herausfordernd es ist, einen Menschen zu begleiten, der sterben will.
Von Norbert Schäfer
Michael Brems, Klinikseelsorge

PRO: Sie haben als Krankenhausseelsorger viel Erfahrung mit dem Leid. Welche Situation hat Sie besonders geprägt?

Michael Brems: Was mich am meisten kielgeholt hat, war eine Erfahrung Ende der 90er Jahre an meiner ersten Stelle, als ein kleiner Junge am Heiligabend bei einem Unfall starb. Die Mutter wollte noch eben mit dem Auto weg, Kartoffeln einkaufen. Der Dreijährige wollte unbedingt mit. Sie hatte ihn auf dem Rücksitz angeschnallt, aber nicht in einem Kindersitz. Irgendwie ist der PKW auf eine glatte Stelle geraten und hat sich überschlagen. Der Junge ist dabei durch die Heckscheibe herausgeschleudert und dann von dem Auto zerquetscht worden.

Ich erinnere mich an die Schreie der Mutter, als ich im Krankenhaus auf die Station kam. Sie hatte nur ein paar Schrammen, aber ihr Kind war tot. Am Heiligabend. Ihre Verzweiflung war tief erschütternd. Ich habe die Familie begleitet, und als es schon dunkel wurde, konnten die Eltern von dem behutsam aufgebahrten Kind einen ersten Abschied nehmen. Diese Erfahrung hat mich tief geprägt und meinen Glauben verändert.

Inwiefern?

Vorher dachte ich, dass Glauben bedeutet, klare Antworten zu haben und, ach, dass Gott schon aufpasst, dass nichts ganz Schlimmes passiert. Aber die Realität hat das erschüttert. Ich habe gemerkt, dass es in den härtesten Momenten keine befriedigende Antwort auf das „Warum“ gibt. Stattdessen ist der Glaube für mich ein „Dennoch“. Ein Vertrauen, dass es eine Güte und eine Gnade gibt, auch wenn das Leben unvorhersehbar und verletzlich ist. Luther nennt das: sich zu Gott wider Gott halten.

Wie hat sich Ihr Blick auf Gott verändert?

Als ich jung war, hatte ich eine eher einfache Vorstellung von Gott – jemand, der die Dinge lenkt und uns beschützt. Doch mit den Erfahrungen in der Krankenhausseelsorge, mit all den Schicksalen und dem Leiden, das ich gesehen habe, merkte ich, dass dieses Bild nicht trägt. Ich habe gelernt, dass Gott nicht wie ein Puppenspieler handelt, der jede Katastrophe verhindert. Stattdessen habe ich ein tieferes Vertrauen entwickelt, dass da etwas ist, das trägt und da ist, selbst wenn ich es nicht genau benennen kann.

Glaube ist für mich ein „Dennoch“. Ein Vertrauen, dass es eine Güte und eine Gnade gibt, auch wenn das Leben unvorhersehbar und verletzlich ist.

Welche Rolle spielt der Glaube für Sie in der Begleitung von Menschen?

Gott sagt zu Mose am Horeb: „Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen.“ (1. Mose 33,21). Ein, wie ich finde, wunderschönes Bild für Seelsorge. Dieser Raum ist in jeder Begegnung potenziell da. Ich habe erlebt, dass Glaube eine enorme Kraftquelle sein kann, ein Felsen. Aber er ist kein Allheilmittel. Nicht jeder, der glaubt, stirbt leichter, und nicht jeder, der zweifelt, ist hoffnungslos. Der Glaube zeigt sich für mich in der Resonanz, in der Verbindung zu den Menschen und zu Gott. Es ist die Überzeugung, dass ich nicht allein bin, selbst in den dunkelsten Momenten.

Wie bringen Sie diese Überzeugung in Ihre Arbeit ein?

Indem ich versuche, wirklich präsent zu sein. In Gesprächen höre ich zu, zeige Mitgefühl und versuche, den Menschen das Gefühl zu vermitteln, dass sie nicht allein sind. Der christliche Glaube bietet mir die Gewissheit, dass ich einen Beitrag leisten kann, ohne alle Antworten zu haben. Das ist wie bei einer Brücke über einem Abgrund. Sie ist da. Aber nicht von vornherein, sondern sie bildet sich erst mit jedem Schritt, den ich gehe. Ein für mich atemraubendes Bild. Schriftstellerin Hilde Domin schreibt: „Ich setzte den Fuß in die Luft – und sie trug.“

Beten Sie mit Patienten?

Das kommt ganz auf die Situation an. Ich biete es an, wenn ich das Gefühl habe, dass es den Patienten guttun könnte und sie es möchten. Aber ich bin sehr sensibel dafür, ob jemand Raum für Gebet braucht oder eher Stille und Zuhören. Häufig sage ich etwas wie: „Ich nehme Sie mit in mein Abendgebet.“ Das empfinden viele als tröstlich, ohne den Druck eines gemeinsamen Gebets zu erzeugen.

Eines ist auch ganz klar: Missionieren hat in der Krankenhausseelsorge keinen Platz. Das wäre ein Missbrauch meiner Position. Ich bin da, um die Menschen zu begleiten, nicht um meine Überzeugungen aufzudrängen. Es geht darum, einen Raum zu schaffen, in dem sich Menschen mit unterschiedlichen Glaubensrichtungen oder auch ohne religiösen Hintergrund angenommen fühlen. Wenn ich mit jemandem spreche, geht es darum, zuzuhören und zu unterstützen – nicht zu predigen oder zu überzeugen.

Wie gehen Sie mit der Belastung des Jobs um?

Jeder Seelsorger entwickelt seine eigenen Methoden. Manche, auch ich, gehen spazieren, machen Musik oder sprechen mit Vertrauenspersonen. Ich habe gelernt, mich berühren zu lassen, ohne von Mitleid davon geschwemmt zu werden. Mitleid lähmt, Mitgefühl ist heilsam.

Wie begleiten Sie Menschen, die dem Tod ins Auge sehen?

Wichtig ist, den Patienten dort zu begegnen, wo sie sind, und ihnen zu helfen, Perspektiven zu finden. Es ist eine Frage, ob sie über ihre Ängste sprechen wollen oder Ruhe suchen.

Krankenhausseelsorge in Deutschland

Wie die Krankenhausseelsorge organisiert ist, hängt von den Landeskirchen ab. In Bayern beispielsweise sind alle Stellen zentral bei der Landeskirche gebündelt, während es in der Nordkirche Sache der Kirchenkreise ist. In der Nordkirche gibt es etwa 90 hauptberufliche Seelsorger, bundesweit sind es um die 950. Insgesamt gibt es etwa 2.000 evangelische und katholische Klinikseelsorger in Deutschland.

Der assistierte Suizid ist ein sehr kontroverses Thema. Wie begegnen Sie als Krankenhausseelsorger Menschen, die sich dafür interessieren oder diesen Weg wählen wollen?

Das ist eine der schwierigsten und zugleich bewegendsten Aufgaben in der Seelsorge. Zu Beginn geht es darum, die Person in ihrer Verzweiflung ernst zu nehmen, zuzuhören und zu verstehen, was sie bewegt. Es ist wichtig, gemeinsam alle Möglichkeiten zu prüfen, um das Leben wieder lebenswert zu gestalten. „Ich will sterben“, heißt nicht immer: „Ich will sterben“! Oft geht es darum, Wege zu finden, Leiden zu lindern und die Lebensqualität zu verbessern. Aber es gibt Situationen, in denen dieser Wunsch bestehen bleibt – und dann ist meine Aufgabe, Menschen auch in dieser schweren Entscheidung zu begleiten.

Sie haben eine Patientin begleitet, die sich für den assistierten Suizid entschied. Wie war das für Sie?

Das war eine außergewöhnliche und tief bewegende Erfahrung. Ich hatte die hochquerschnittsgelähmte Patientin fast drei Jahre begleitet. Irgendwann erreichte mich ihre abgrundtiefe Verzweiflung, die sich nur noch nach dem Tod sehnte und die ihr Leiden nicht mehr ertrug. Sie entschloss sich für einen assistierten Suizid, und ich habe sie auf ihrem Weg unterstützt und begleitet. Zwei Tage vor ihrem Tod feierten wir mit ihrer Familie das Abendmahl – ein sehr intimer und bedeutsamer Moment.

Wie haben Sie sich auf diesen Moment vorbereitet?

Ich habe im Vorfeld viel nachgedacht und mit anderen geredet, und es gab Momente, in denen mir die Bedeutung dessen, was bevorstand, sehr bewusst wurde. Der Gedanke, mit einer Frau, die ich kannte und schätzte, das Abendmahl zu feiern, kurz bevor sie starb, war bewegend. Doch als ich dort war, war es nicht pathetisch, sondern hatte fast etwas Profanes und zugleich Würdevolles.

Haben Sie versucht, die Patientin von ihrer Entscheidung abzubringen?

In der Anfangsphase haben wir alle Möglichkeiten diskutiert, um ihr Leben lebenswert zu gestalten. Doch es gibt Situationen, in denen der Wunsch, zu sterben, bleibt. Für mich war es entscheidend, zu respektieren, was sie empfand, und mich von ihrer Not und Verzweiflung berühren zu lassen.

Was raten Sie Menschen, die über assistierten Suizid nachdenken oder mit Angehörigen darüber sprechen müssen?

Offenheit und Zuhören sind entscheidend. Es geht darum, die Verzweiflung zu verstehen und gemeinsam zu schauen, ob es Wege gibt, die Lage zu verbessern. Wenn das nicht geht und der Entschluss feststeht, wäre es schön, weiter mit Verständnis, Wärme und Mitgefühl mitzugehen. Das erfordert Mut und viel Menschlichkeit.

Was hat Ihnen die Arbeit über das Leben beigebracht?

Ich habe gelernt, dass das Leben zerbrechlich ist und wir keine absolute Kontrolle haben. Gleichzeitig habe ich gesehen, wie viel Kraft in Menschen steckt, die trotz schwerster Schicksalsschläge weiterleben und ihr Leben gestalten wollen.

Was bewegt Menschen dazu, eine solche Ausdauer zu zeigen?

Glaube kann eine Stütze sein, ist aber nicht die einzige. Oft ist es ein Netzwerk aus Familie, Freunden und der Fähigkeit, in der Krise neue Perspektiven zu finden. Seelsorge kann helfen, diese Ressourcen zu aktivieren.

Vielen Dank für das Gespräch.

Dieses Interview ist erstmals in der Ausgabe 6/2024 des Christlichen Medienmagazins PRO erschienen. Das Heft können Sie hier kostenlos bestellen.

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