Erst im Januar läuft Frauke Lodders Film „Gotteskinder“ in den deutschen Kinos an, doch schon jetzt scheint ihn die halbe Republik gesehen zu haben. 17 deutsche Filmfestivals hatten ihn bereits im Programm, sechs Preise heimste er bis dato ein. Irgendwas muss also dran sein an dieser Geschichte über zwei Teenager, die in einer evangelikal geprägten Familie aufwachsen – und an deren Dogmen zerbrechen.
Hannah (Flora Li Thiemann) und Timotheus (Serafin Mishiev) werden von ihren Eltern streng christlich erzogen. In ihrem Leben dreht sich alles um Lobpreis, Keuschheit und Gebet. Sie besuchen eine christliche Schule, in der der Lehrer die Stunde mit einem Gebet beginnt. Sie treffen sich regelmäßig mit allen Nachbarn zu einem überdimensionierten Hauskreis mit Dutzenden Gästen. Hannah bereitet sich gerade auf ein Keuschheitsritual vor, bei dem sie von ihrem Vater (Mark Waschke), einen Ring an den Finger gesteckt bekommen und geloben soll, bis zur Ehe „rein“ zu bleiben. Timotheus steht kurz vor seiner Taufe und arbeitet fleißig an seinem selbstverfassten Bekenntnis zu Jesus.
Einmal kurz durchschnaufen
Schon bei diesem Setting mag der ein oder andere Zuschauer einmal tief durchschnaufen und sich fragen: Wo in Deutschland mag es solche Zustände wohl geben? Eine abgeschottete evangelikale Community mit eigener Schule, fixiert auf Heiligkeit und Reinheit, beseelt von kitschigem Lobpreis, der allgegenwärtig durch die Flure schallt und geschmückt durch Kreuzketten? Wirklich jeder Mann in diesem Film scheint eine zu tragen.
Nein. Nicht jeder. Und damit nimmt das Drama seinen Lauf. Denn eine alleinerziehende Mutter mit ihrem Sohn Max zieht ins Viertel. Und dieser Max mit seinen zerrissenen Klamotten und den wilden Haaren hat mit Religion gar nichts zu tun. So sehr er den Glauben und die seltsam entrückt wirkenden Rituale der Christen missachtet, so sehr lernt er aber ausgerechnet Hannah schätzen. Es kommt, was kommen muss: Die beiden verlieben sich ineinander. Am Anfang kann Hannah sich schlicht nicht mehr richtig auf ihre Antiabtreibungsvideos auf Youtube konzentrieren. Am Ende küsst Max sie auf der Tanzfläche eines Evangelisationsevents. Und das gefällt dem frommen Vater kein bisschen, denn Hannahs Keuschheit steht auf dem Spiel.
Es kommt noch dicker. Auch Timotheus ist weit weniger sündenfrei, als sein Vater das fordert. Er hegt homosexuelle Gefühle für einen Klassenkameraden. Die beiden enden knutschend im Wald, nicht aber, bevor sie von ihren Eltern in ein Seelsorgeseminar, das auch als Homoheilungsinstitut dient, zwangseingewiesen wurden. Dort landet übrigens auch Max. Gegen seinen Willen. Er wird mit einem Kleintransporter vor dem Haus seiner Mutter abtransportiert.
„Führt meine Tochter dich zu Gott?“
So steht am Ende mindestens eines fest: Diesem Film ist kein Christenklischee zu billig. Nicht einmal die Backpfeife des Vaters gegen die Tochter im Kindergartenalter, als sie erzählt, dass sie im Spiel ihre Freundin geheiratet hat. Nicht mal die Frage an Max: „Führt meine Tochter dich zu Gott?“ Nicht mal die Dämonenaustreibung im Seelsorgekurs. Nicht mal die Szene, in der der Vater im Wohnzimmer der Familie ein überdimensionales weißes Holzkreuz baut.
Nur warum? Regisseurin Lodders erklärte der Presse bereits, sie habe ein Jahr lang im Freikirchen-Milieu recherchiert. Das zumindest glaubt man sofort. Denn in der Tat trifft sie bei vielen Details ins Schwarze. Etwa wenn der Gottesdienst „Celebration“ heißt und beim Jugendevent ein fescher Motivationsredner in Achselshirt auf die Bühne springt und das Publikum anheizt. Gefolgt vom langhaarigen, ebenso bemützten wie beseelten Sänger der christlichen Rockband. Das alles sind wunderbare Beobachtungen, die gute Satire hätten werden können. Leider sind sie nur Beiwerk für ein Drama, das weit über das Glaubwürdigkeitsziel hinausschießt.
Chance vertan
Das ist auch deshalb schade, weil es fürwahr viel an der freikirchlichen frommen Szene zu kritisieren gibt. In der Tat ist sie in Teilen ausgrenzend, vielleicht auch zu wenig weltoffen, zu sehr in der eigenen Perspektive verharrend, zu wenig einladend. Und Missbrauchsskandale gibt es nicht nur in den Volkskirchen, auch wenn sie dort prominenter verhandelt werden.
Kritik ist notwendig, vielleicht sogar lebenserhaltend für die Kirchen. Nur taugt eine Eskalation wie der Film „Gotteskinder“ kaum, um Beteiligte ernsthaft ins Nachdenken zu bringen. Wer dem freikirchlichen Milieu angehört, sei es im liberalen oder konservativen Kontext, wird wohl recht schnell ausschalten und das Gesehene in die Schublade „Stereotyp“ ablegen. Konstruktive Kritik sieht anders aus. Und so hilft dieses Drama wirklich niemandem weiter. Weder macht es nachdenklich noch prangert es Missstände an, die jetzt und heute zu ändern wären. Stattdessen verliert sich der Film trotz wohl ausgewählter Besetzung im Viel-zu-viel.
Was also ist dran an „Gotteskinder“? Vermutlich ist es der durchaus faszinierende Blick in ein Milieu, das viele der Zuschauer gar nicht kennen oder nur vom Hörensagen durch Geschichten aus dem Amerika Donald Trumps. So flach wie die Reden des letzteren bleiben aber auch die Charaktere der Frommen. Was sind ihre Motive? Warum halten sie ihr Tun für richtig? Wieso sehnen sie sich so sehr nach Heiligung? Damit halten die Macher sich nicht auf. Sie setzen Feindbilder, statt Weltbilder zu hinterfragen. Das ist alles andere als preiswürdig.