Rezension

Prosieben: Streben „radikale Christen“ nach der Macht?

Der Journalist Thilo Mischke begibt sich in einer Reportage für Prosieben auf die Suche nach „radikalen Christen“ – und wird fündig.
Von Petra Kakyire
Pastor Ben Fitzgerald mit dem Rücken auf der Bühne im Rahmen eines Christlichen Events

Stehen sich radikaler Glaube und rechte Politik nahe? Wann ist Glaube nur Glaube und wann wird er zur Gefahr? Kann Glaube zu einer Bedrohung für die Grundlagen der Gesellschaft werden? Unter anderem diesen Fragen geht der Journalist Thilo Mischke, der sich als Atheist bezeichnet, in seiner Reportage „Radikale Christen und ihr Griff nach der Macht“ nach. Er untersucht die evangelikale Christenszene und mögliche Berührungspunkte mit rechter Politik. Dazu recherchiert er in Deutschland, Amerika, Afrika und den Niederlanden. Die Reportage ist seit Montag auf dem Fernsehen-Sender Prosieben und auf der Streamingplattform Joyn abrufbar.

Christliche Freikirchen geben ein Zugehörigkeitsgefühl

Baden-Württemberg. Mischkes erste Station ist eine christliche Veranstaltung der Organisation „Awakening Europe“. Menschen singen. Eine Band spielt auf der Bühne. Vereinzelt rufen Menschen den Namen Jesus. Pastor Ben Fitzgerald sagt auf der Bühne: „Erhebt eure Stimmen, Jesus lebt“. Mischke beschreibt die Atmosphäre der jungen Gläubigen als eine Art Trancezustand, ein Gemeinschaftsgefühl, das unter anderem durch einfache Lieder zum Mitsingen vermittelt wird. „Für die Gläubigen ist es der Heilige Geist, der hier wirkt. Ich frage mich, ob es vor allem ein tiefes Bedürfnis nach Zugehörigkeit ist, das die Menschen in diese Freikirche zieht“, sagt Mischke.

Im weiteren Verlauf der Reportage besucht Mischke christliche Gemeinden und Veranstaltungen, die den Glauben seiner Meinung nach radikal leben. Er geht der Frage nach, was junge Menschen an dieser Bewegung fasziniert und stellt dabei fest, dass in vielen dieser Gemeinden ein sehr einseitiges Weltbild vorherrscht: gut gegen böse, schwarz gegen weiß. Diese Einteilung sei nicht nur irritierend, sondern werfe auch die Frage auf, welche Ziele die Anhänger mit dieser Sichtweise verfolgten, erklärt Mischke.

In Teilen der Strömung gehöre der Druck auf die Gemeindemitglieder ebenso zur Struktur wie die Diskriminierung Andersdenkender, sagt Mischke. Der Reporter stützt diese Aussagen auf die Erfahrungen und Erlebnisse der Freikirchenaussteiger Daniela Jacobi und Julian (Name geändert). Jacobi fand nach jahrelangem Mobbing in der Schule Halt in Gott und der Gemeinde. Auf Instagram erzählt sie von ihren problematischen Erfahrungen in der Gemeinde. Sie zeigt, wie einfache und zugängliche Inhalte bei einer jungen Zielgruppe besonders gut ankommen.

Diese Einblicke zeigen, dass Glaube oft zur Inszenierung und Vermarktung wird – ein Thema, das durch Mischkes detaillierte Betrachtung der Social-Media-Strategien von sogenannten Christfluencern verstärkt wird. Der anonyme Aussteiger aus einer Freikirche (Julian) hingegen argumentiert, dass Kirchen vor allem für Menschen mit traumatischen Erfahrungen konzipiert sind. Der moderne Glaube in seiner damaligen Gemeinde sei eine Show gewesen. Nachdem er einigen Gemeindemitgliedern erzählt habe, dass er sich zu homosexuellen Menschen hingezogen fühle, hätten plötzlich viele versucht, einen „Dämonen“ durch Gebete auszutreiben.

Glaube und rechte Politik – geht das zusammen?

In den USA nehme die Verbindung von Glaube und Politik kurz vor den Wahlen 2024 bedrohliche Züge an, heißt es in der Reportage. Hier fänden konservative Christen in Donald Trump ihren „Messias“ und fordern strenge Abtreibungsgesetze, die aus Sicht der Filmemacher die Grenzen zwischen religiösen Überzeugungen und politischen Agenden weiter verwischen.

Die Doku fragt, ob dies auch in Deutschland drohe, Mischke befragt dazu die christliche Influencerin Jasmin Neubauer und der als politisch rechts geltende Youtuber „Ketzer der Neuzeit“ (Leonard Jäger). Sie diskutieren umstrittene Bibelstellen. Mischke fragt, wie politisch ihr Glaube ist. „Wir leben für ein himmlisches Reich und nicht für ein politisches. Und davon wollen wir uns distanzieren“, sagt Neubauer. Neubauer und Jäger wollen den Menschen Jesus näherbringen, nicht die Politik, sagen sie.

Mischke ist es gelungen, durch Nahaufnahmen von Menschen, Gesichtsausdrücke, Interviews und Aufnahmen von christlichen und politischen Veranstaltungen eine emotionale, ernste, aber auch authentische Stimmung zu vermitteln. Mischke erkennt, dass der Glaube für viele ein Halt in einer komplexen Welt ist. Er erwähnt auch, dass es neben radikalen Christen auch solche gibt, die liberaler und weltoffener sind. In der Reportage geht es aber vor allem um Christen, die er als radikal bezeichnet. Die Dokumentation zeigt, wie manipulativ bestimmte Strömungen und Bewegungen innerhalb der christlichen Gemeinschaft sein können.

Trotz der teils verstörenden Einblicke in verschiedene Glaubensrichtungen gibt es an der Reportage auch Kritikwürdiges. Der Film hätte ausgewogener über Evangelikale und Freikirchen berichten können, statt einen ausschließlich negativen Blick auf Freikirchen zu richten. Denn die allermeisten haben mit den Extrembeispielen aus dem Beitrag kaum etwas gemein. Christen, die gute Erfahrungen gemacht haben, kommen kaum zu Wort.

Mischkes Reise ist eine Einladung, über die eigene Haltung zu Glaube, Gemeinschaft und Radikalität nachzudenken – und lässt den Zuschauer mit der Frage zurück, wie Glaube in einer zunehmend polarisierten Welt gedeihen kann.

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