Rezension

Historiker räumt Vorurteile über das Mittelalter beiseite

Das Mittelalter war finster, und der Glaube verdummte die Menschen. Mit derlei Vorurteilen räumt der Historiker Ian Mortimer auf. Mehr noch: Nichts förderte zumindest die britische Gesellschaft mehr als ausgerechnet ein christliches Buch.
Von Jörn Schumacher
Als Licht das Dunkel durchdrang - Das unterschätzte Mittelalter

Wer sich über das Mittelalter unterhält, wird nicht lange auf dieses Wort warten müssen. Noch immer spukt das Bild vom Mittelalter als einer „dunklen Zeit“ in den Köpfen herum, es ruft immer das Adjektiv „finster“ automatisch mit hervor. Dabei erlebte die Menschheit gerade in jenen Jahrhunderten zwischen 1000 und 1600 einen großen Wandel, betont der britische Historiker Ian Mortimer in seinem neuen Buch.

Der Brite ist für Bücher bekannt, in denen er das alltägliche Leben in bestimmten Epochen der Menschheitsgeschichte eindrücklich beschreibt. Bücher wie „Shakespeares Welt: So lebten, liebten und litten die Menschen im 16. Jahrhundert“ und „Im Mittelalter: Handbuch für Zeitreisende“ machten ihn zu einem der erfolgreichsten britischen Sachbuchautoren. Sein neues Buch „Als Licht das Dunkel durchdrang. Das unterschätzte Mittelalter – eine Epoche des Wandels“ stellt die These auf: Wer immer noch „mittelalterlich“ mit „rückständig“ oder „unwissend“ in Verbindung bringt, offenbart nur selbst seine Rückständigkeit und Dummheit. Der christliche Glaube spielt dabei in der Entwicklung – mindestens auf den britischen Inseln – eine kaum zu unterschätzende Rolle.

„Mittelalter mehr als Schwertkämpfe, landwirtschaftliche Arbeit und Gebete“

Sicher dehnt der Autor, der ausgewiesener Experte für die Zeit der Aufklärung ist, den Begriff „Mittelalter“ großzügig auf das 16. Jahrhundert aus, mit dem er sich nun mal am besten auskennt. Außerdem beschränkt sich Mortimer größtenteils auf die britischen Inseln. Dennoch ist sein Buch ein Augenöffner auch für ein breiteres Publikum, voll mit interessanten Fakten, und er schreibt wie gewöhnlich so bildlich, dass sich der Leser das damalige Leben sehr gut vorstellen kann.

„Wenn wir uns das Mittelalter anschauen, gehen wir davon aus, dass es in dieser Zeit wenig oder überhaupt keinen gesellschaftlichen Wandel gab, sondern immer nur Schwertkämpfe, landwirtschaftliche Arbeit und Gebete“, schreibt Mortimer. „Die Gesellschaft scheint über Jahrhunderte hinweg weitgehend dieselbe geblieben zu sein. Dieses Bild könnte falscher nicht sein.“ Er hält dagegen: „Das Alltagsleben der Menschen und ihre ‚Weltsichten‘ veränderten sich zwischen dem 11. und dem 16. Jahrhundert enorm. Sie durchliefen so viele Umwälzungen, dass es schwer ist, sie alle zu zählen.“

Auch hier können nicht alle Punkte wiedergegeben werden, die weit verbreitete Missverständnisse ausräumen. Die grundlegenden Veränderungen etwa der Architektur, der Medizin, des Reisens bis hin zur Rechtsprechung erklärt der Historiker. Und natürlich waren Glaube und Kirche maßgeblich beteiligt an diesem Wandel. Und das durchaus nicht immer positiv. So fand die medizinische Forschung eher nicht wegen, sondern trotz der Kirche statt, so Mortimer. Lange galt die Anwendung von Medikamenten als Handeln gegen den Willen Gottes, erst nach und nach kamen die Menschen zu der Überzeugung, Gott habe die Gegenmittel für all die Krankheiten wachsen lassen, und es sei die Pflicht, diese Gegenmittel zu finden und damit Krankheiten zu heilen.

Kirche des Mittelalters vollzog moralischen Balanceakt

Auch auf die Kreuzfahrer und den Krieg geht Mortimer ausführlich ein. „Im 11. Jahrhundert nahm die Kirche eine ambivalente Haltung zum Krieg ein. Einerseits lehrte sie pflichtgemäß: ‚Du sollst nicht töten.‘ Andererseits hatte sich seit Augustinus im frühen 5. Jahrhundert die Idee des ‚gerechten Krieges‘ entwickelt. Danach ist ein Krieg gerechtfertigt, wenn es einen moralischen Grund gibt, ihn zu führen, und das gewünschte Ergebnis der Frieden ist.“ Die Kirche habe hier einen moralischen „Balanceakt“ versucht. Ähnlich sah es mit der Sklaverei aus, die damals ganz normal war. Einerseits lehrte die Kirche, dass die Sklaverei bedauerlich sei, profitierte aber gleichzeitig von den Abgaben der Bauern und Klöster. Je mehr Sklaven arbeiteten, desto höher der Ertrag und somit der „Nutzen für Gott“, so die Argumentation. Das Mittelalter erlebte gleichzeitig jedoch einen dramatischen Wandel in der Setzung und Durchsetzung von Recht, so Mortimer. Die Zahl der jährlich gewaltsam Getöteter fiel in England dramatisch ab. „Zudem gab es im Jahr 1600 eine ganze Hierarchie kirchlicher Gerichte, die im Jahr 1000 noch nicht existierten.

Überall in Europa wurden im Mittelalter unzählige Kirchen errichtet. 1348 waren die höchsten Gebäude aller Reiche der Christenheit auf die dreifache Höhe angewachsen. Die Zahl der Klöster und Abteien vervielfachte sich mehrmals – in ganz Europa waren es im Jahr 1500 mehr als 12.000. Mortimer: „Es war das Mittelalter, das uns mit gewaltigen ingenieurtechnischen Großtaten und städtischen Ballungsräumen bekannt machte.“

„Das Kreuz symbolisiert das Mittelalter ähnlich wie das Telefon die letzten 150 Jahre“

Auch das Reisen wurde erst im Mittelalter etwas Normales. „Märkte und Jahrmärkte schossen wie Pilze aus dem Boden. Auch die Pilgerfahrten nahmen zu. Mönche reisten zwischen ihren Klöstern und Ländereien hin und her, Bettelmönche zogen von Stadt zu Stadt, Äbte und Prioren nahmen an Versammlungen ihrer Orden teil, Bischöfe und Äbte waren im Parlament vertreten und Geistliche reisten ins Ausland, um den allgemeinen Konzilen der katholischen Kirche beizuwohnen.“ Der Horizont erweiterte sich – im wahrsten Sinne des Wortes. Dies habe „zu mehr geografischem Selbstvertrauen“ geführt. „In England beschäftigte man sich immer häufiger mit dem, was mehr als 5.000 Kilometer entfernt im Nahen Osten geschah.“ Während Schulen im Jahr 1000 noch praktisch unbekannt waren, sorgte das Dritte Laterankonzil im Jahr 1179 dafür, dass jede Bischofskirche eine Schule haben sollte, das Vierte Laterankonzil von 1215 erweiterte die Bestimmung auf alle Kirchen.

Natürlich sei die Kirche zu einer großen, mächtigen und reichen Organisation geworden, bestätigt Mortimer. „Das Kreuz symbolisiert das Mittelalter ähnlich wie das Telefon die letzten 150 Jahre.“ Viele Christen fühlten sich aber zunehmend abgestoßen vom wachsenden Reichtum der Bischöfe und Erzdiakone und drängten auf eine Rückkehr zur Armut Christi.

Ein Buch, das die Weltgeschichte veränderte

Neu dürfte für viele Mortimers Erläuterungen über den enormen Einfluss der Bibelübersetzung William Tyndales sein. „Keine andere Publikation in der Geschichte hatte einen so großen Einfluss auf England.“ Das Buch, das 1526 in Worms gedruckt wurde, war in England verboten. In Stoffballen wurden die Exemplare nach England und Schottland geschmuggelt. Henry VIII. hatte stets befürchtet, England könne durch die Demokratisierung der Bibel zum Luthertum übergehen. Der Bischof von London kaufte fast alle der etwa 3.000 Exemplare in England auf und verbrannte sie. Mortimer: „Nicht anders erging es jenen, die mit einem Buch Tyndales erwischt wurden.“ Heute sind von dem Buch nur noch drei Exemplare erhalten.

Tyndales Schriften hätten England nicht nur zu einer Reihe weltverändernder Debatten darüber geführt, wie die Menschen ihre Religion ausüben sollten – sei es als ihren persönlichen Glauben, kollektiv als Kirche oder im Gehorsam gegenüber dem Papst. Sie führten auch zu einem verantwortungsbewussten Bürgersinn, zu einer Infragestellung der Autorität und zu einer zunehmenden Alphabetisierung, insbesondere bei den Frauen.

Von William Tyndale zu heutigen Evangelikalen

Tyndale wurde verhaftet und am 6. Oktober 1536 hingerichtet. Schon ein Jahr nach seinem Tod jedoch war es legal, eine englische Bibelübersetzung zu besitzen, ja, wenig später wurde diese für jede Kirche in England sogar zur Pflicht. Die spätere King James Bible, die erstmals 1611 veröffentlicht wurde, geht zum größten Teil auf Tyndales Übersetzung zurück. Man bedenke, dass mehr Bibeln in englischer Sprache gedruckt wurden als in jeder anderen Sprache, und auch heute noch benutzt etwa ein Drittel der amerikanischen Bevölkerung die King James Bible. „Mit Fug und Recht“ könne Tyndales Bibelübersetzung daher als „das einflussreichste Buch gelten, das je in englischer Sprache veröffentlicht wurde“, so Mortimer.

Für den Reformator war das Treiben der Kirche von England Götzendienst. „Nichts, so erklärte er mit Nachdruck, habe größere Autorität als die Heilige Schrift.“ Mortimer fügt hinzu: „Um eine moderne Analogie zu verwenden, gab er seinen Lesern nicht nur Tipps und Anhaltspunkte, wie sie womöglich in der Lotterie des ewigen Lebens gewinnen könnten: Er gab ihnen die Gewinnzahlen. (…) Wenn evangelikale Prediger uns heute erklären, was wir tun sollen, um unsere Seelen zu retten, dann sagen sie nicht, dass wir auf diese oder jene Pilgerreise gehen oder an diesem oder jenem Wallfahrtsort beten sollen: Sie sagen, wir sollen die Bibel lesen. In England war das in den letzten 480 Jahren so.“

Armut war auf einmal nicht mehr gottgewollt, Raffgier eine Sünde

Mit dem neuen verantwortungsbewussten Bürgersinn stiegen auch die wohltätigen Spenden für Arme, Vagabunden wurden nicht länger ausgepeitscht oder versklavt, ihnen wurde per Gesetz geholfen. „Diese Gesetzgebung gilt als eine der größten Errungenschaften des elisabethanischen Englands“, so Mortimer. „Sie bewahrte Menschen vor dem Hungertod.“ Soziale Probleme, die zuvor dem Willen Gottes zugeschrieben worden waren, galten zunehmend als ein Versagen der Bürger, den Lehren Christi zu folgen. Mortimer: „Wenn man verstehen will, warum 10 Prozent des nördlichen Europa – darunter zwei Millionen Menschen in Frankreich – in den schrecklichen Hungersnöten zwischen 1690 und 1710 starben, während in England fast alle Einwohner überlebten, liegt die Antwort zumindest teilweise in der Einführung des Old Poor Law hundert Jahre zuvor und im Verantwortungsbewusstsein der Bürger gegenüber ihren Mitmenschen, das auf die Veröffentlichung der englischen Bibel folgte.“

Als die wichtigste kulturelle Veränderung in Verbindung mit der Übersetzung der Bibel stand die wachsende Alphabetisierung der Bevölkerung. Mit ihr brachten sich die Menschen Lesen und Schreiben selbst bei. „So gesehen war Tyndale zweifellos der erfolgreichste Lehrer, den die englischsprachige Welt je hatte.“ Besonders Frauen hatten vor dem 16. Jahrhundert relativ wenige Bildungsmöglichkeiten, die zunehmenden Lese- und Schreibkenntnisse gaben ihnen zum ersten Mal die Möglichkeit, sich öffentlich zu äußern. Sie wurden zur den „Lehrerinnen der Nation“. Wissen und Debatten waren zum ersten Mal in der Geschichte kein rein männliches Privileg mehr.

Prälaten und Kleriker konnten sich auf einmal nicht mehr als unanfechtbare Autoritäten in religiösen Angelegenheiten behaupten. Ihre Entscheidungen mussten ein Fundament in der Heiligen Schrift haben, so Mortimer. Wenn es in der Bibel hieß, ein Reicher komme kaum ins Gottes Himmelreich, war das Anhäufen großer Reichtümer offenbar gottlos – also auch für die weltlichen Herren sowie für Bischöfe und Äbte. „Warum also sollte man einem von ihnen gehorchen?“

Sogar der bekannte König Henry VIII., der sich 1533 vom Papst loslöste, um Anne Boleyn heiraten zu können, und damit die Weltgeschichte veränderte, war von Tyndales Buch betroffen. „Die junge protestantische Dame besaß ein eigenes Exemplar von Tyndales Obedience of a Christian Man“, so Mortimer. „Am Rand markierte sie die Abschnitte, die den König womöglich besonders interessierten, und erklärte ihm, es sei ‚ein Buch, das alle Könige lesen sollten‘.“ Tyndales Ablehnung der päpstlichen Autorität hat Henry offenbar inspiriert.

Ein Buch, das nicht nur für Geschichts-Interessierte wertvoll ist, sondern auch für Gläubige, die die Auswirkungen ihres Glaubens auf die Welt ins rechte Licht rücken wollen. Wem wieder einmal gesagt wird, die Kirche sei Mittelalter, und das Mittelalter sei finster und unaufgeklärt gewesen, sei ein Blick in dieses Buch empfohlen. Bei einem Besuch einer Kathedrale in Frankreich stellte Mortimer erneut fest: „Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass jeder, der ‚mittelalterlich‘ mit ‚unwissend‘ assoziiert, selbst der Inbegriff von Unwissenheit ist.“

Ian Mortimer: „Als Licht das Dunkel durchdrang. Das unterschätzte Mittelalter – eine Epoche des Wandels“, Erscheinungstermin: 24. Oktober 2024, 336 Seiten, 24 Euro, ISBN: 978-3492073028

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