Filmkritik

System Korntal: Gebet, Prügel, Andacht, Missbrauch

Dieser Tage ist eine Dokumentation ins Kino gekommen, die nicht auszuhalten ist: In „Die Kinder aus Korntal“ erzählen Betroffene von Missbrauch und Gewalt in der örtlichen Brüdergemeinde. Sie legen ein System der Scheinheiligkeit offen.
Von Anna Lutz

„Die Brüdergemeinde hätte es vertuscht. Die hätte das unter den Teppich gekehrt“, sagt Detlev Zander am Anfang des Films „Die Kinder aus Korntal“, der am Donnerstag in den deutschen Kinos angelaufen ist. Am Ende des Films ist klar: Er hat recht. 

Anderthalb Stunden lang lässt die Dokumentarfilmerin Julia Charakter vor allem Betroffene zu Wort kommen. Ehemalige Kinder aus dem Kinderheim der Brüdergemeinde Korntal, dem sogenannten Flattichhaus. Was sie ans Tageslicht bringen, ist nicht auszuhalten. 

„Wir waren Menschenmüll“

„Es gab immer einen Grund, warum man verprügelt worden ist“, sagt eine Frau. „Wir waren Menschenmüll, wir waren nichts wert“, eine andere. Kinder hätten nachts ihren eigenen Urin getrunken, weil sie nicht auf Toilette gehen durften und zugleich niemand mitbekommen durfte, dass sie mussten. „Statt unserer Gute-Nacht-Geschichte haben wir unsere Prügel gekriegt“, heißt es. 

Detlev Zander wurde in Korntal missbraucht. Heute spricht er offen darüber und fordert eine angemessene Entschädigung

Von den 50er bis in die 80er Jahre hinein wurden Kinder in den Einrichtungen der Brüdergemeinde und der evangelischen Diakonie systematisch unterdrückt, brutal misshandelt und sexuell missbraucht. Über 140 Betroffene haben im Laufe der Jahre davon berichtet. Einige kommen im Film zu Wort. 

Sie zeichnen ein System der Gewalt nach, in dem Erzieherinnen Lehrern der angegliederten Schule Kinder zum Missbrauch zugeführt haben. In dem Kinder beim Gebet mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen wurden, wenn sie etwas vergaßen oder falsch sagten. In dem Geistliche Kinder anlasslos als „Teufelsbrut“ beschimpften. In dem Waisen mit heißen Kleiderbügeln verprügelt wurden. 

Die Gemeinde – ein Tatort. Eine Subkultur, in der abendliche Arztbesuchen in der Mädchengruppe organisiert wurden und Hausmeister Kinder in der Schulzeit einfach aus dem Klassenzimmer holen konnten. Alles zum Zweck sexualisierter Gewalt, wie die Betroffenen erklären. 

Mehr als Lippenbekenntnisse

Doch nicht nur das. „Die Kinder aus Korntal“ thematisiert vor allem einen Unwillen der Gemeinde, die Geschehnisse aufzuarbeiten. Zu Wort kommt ein älteres Ehepaar, das darum bittet, doch nicht mehr ständig über den Missbrauch zu sprechen. Sowie der Pfarrer der Gemeinde bis 2022, Jochen Hägele, dessen Worte über die Vergebungsbereitschaft Jesu auch gegenüber Tätern einem bitter aufstoßen. Zugleich klagen die Betroffenen über mangelnde finanzielle Entschädigung. „Lächerlich“, nennt einer eine Zahlung von 5.000 Euro dafür, dass er jahrelang gelitten hat.

„Warum hilft mir keiner?“, habe Zander sich als kleiner Junge wieder und wieder gefragt. Er spricht von „theologischer Gewalt“. Wie könnte man Menschen wie ihm übel nehmen, dass sie den Pietismus bis heute kritisch sehen und das auch so zum Ausdruck bringen. Den Glauben werde die Brüdergemeinde ihm nicht wegnehmen, sagt Zander dennoch. Wer „Die Kinder aus Korntal“ gesehen hat, fragt sich, wie das möglich ist. Und wünscht ihm und all den anderen ehemaligen Korntal-Kindern nicht nur Gottes Segen sondern auch eine echte und wertvolle Entschädigung für ihr Leid. Dafür kämpfen sie bis heute. 

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