Die Freie Theologische Hochschule Gießen (FTH), meine Alma Mater, feiert ihr 50. Jubiläum, und von einer Midlife Crisis ist nichts zu spüren. Im Gegenteil: Im neuen Semester beginnen 70 Frauen und Männer ihr Bachelorstudium an der Hochschule – ein Rekord, der Mut macht für die Zukunft. Schließlich beklagen Landes- und Freikirchen allerorten einen erheblichen Nachwuchsmangel. Es braucht Leute, die Theologie studieren. Unbedingt.
Ich bin einer von ihnen, auch wenn ich nach dem Studium Journalist und nicht Pastor geworden bin. Eigentlich wollte ich nur kurz an der FTH studieren, vielleicht für zwei Semester. Doch ich blieb hängen. Nicht weil ich ein berufliches Ziel verfolgte. Sondern weil ich merkte, dass ich mich hier mit Themen beschäftigen kann, von denen ich mein ganzes Leben profitieren würde.
Ich erinnere mich an Freundschaften mit Kommilitonen, die die Jahre überdauert haben. Exegesen, in denen buchstäblich jedes Jota und Lambda umgedreht wurde. Gespräche mit Dozenten, die sich immer Zeit für einen nahmen. Sprachdozenten, die sich dafür entschuldigten, wenn eine Klausur schlecht ausgefallen war (weil die Studenten zu wenig gelernt hatten).
Ich wählte damals Kirchengeschichte als Hauptfach und war damit ein ziemlicher Exot. Jahrelang hatte es das nicht mehr gegeben. Aber mein Interesse für die historische Recherche, für das Lernen aus der Geschichte, um fürs Heute gewappnet zu sein, überwog damals alles andere. Das führte dazu, dass ich in den Veranstaltungen für Historische Theologie oft mit nur zwei weiteren Kommilitonen saß, während die anderen ihre Seminare in Systematischer oder Praktischer Theologie belegten. Manchmal saß ich sogar alleine vor dem Professor, in einem „Privatissimum“ also. Da fiel es auf, wenn man die Pflichtlektüre nicht gelesen hatte.
Ganz anders war es in einem meiner Lieblingsveranstaltungen, dem Hauptseminar in Systematischer Theologie, es ging um Hermeneutik, also dem Verstehen biblischer Texte. Jeder sollte sich mit einem in der Theologiegeschichte bedeutenden Schriftverständnis auseinandersetzen und in einem Vortrag referieren. Das besondere dabei: Die Vortragenden sollten als Fürsprecher dieser Position auftreten und dafür werben, dass genau dieses Schriftverständnis das richtige ist. Die Zuhörenden stellten kritische Fragen, der Referent musste die Anfragen dann möglichst scharfsinnig widerlegen. Der Gedanke dahinter: Man versteht eine Position erst, wenn man sich voll in sie hineinversetzt, egal wie man sie anfänglich findet. In wenigen Veranstaltungen habe ich mehr gelernt. Mein Thema war übrigens „feministische Hermeneutik“.
Was ich von der FTH mitnehme, ist – neben so vielem anderen – die Erkenntnis, dass ich nicht alles wissen muss. Aber dass ich alles fragen darf. Und dass ich mit meinen Fragen, die ich an Gott, die Bibel und das Leben hatte, nicht der erste, nicht der einzige und sicher nicht der letzte bin, der diese Fragen gestellt hat.
Ein Spruch von Rabbi Akiwa
Mit dem Systematischen Theologen Armin Buchholz, der mittlerweile leider verstorben ist, diskutierte ich als Freikirchler intensiv über das lutherische Abendmahlsverständnis, das er mit großer Verve verteidigte. Es war, als habe man Martin Luther höchstpersönlich vor sich, der seinen Kontrahenten Zwingli auf den mit Kreide auf den Tisch geschriebenen Satz „hoc est corpus meum“ verwies, den Satz, der doch beweise, dass es sich beim Brot tatsächlich um den Leib Christi handle. Worauf ich, der wie Zwingli in dem Brot eher eine geistliche Deutung sah, erwiderte, dass Jesus doch auch keine Tür, kein Weg, kein Weinstock, kein Brot und kein Wasser ist, obwohl Jesus sich doch selbst als das bezeichnete. Aber immerhin geht es hier ja um ein Sakrament! Es konnte durchaus hitzig werden – und danach wieder darum gehen, dass die Nationalmannschaft am Vorabend verdient verloren hatte.
Diesen geschwisterlichen Geist, in der Sache entschieden anders zu denken und sich als Jungspund trotzdem respektiert zu fühlen von Menschen, die jahrzehntelang darüber geforscht haben, habe ich sehr geschätzt. An der Tür eines Dozenten für Altes Testament hing ein Spruch von Rabbi Akiwa: „Viel habe ich von meinem Kollegen gelernt. Noch mehr habe ich von meinen Lehrern gelernt. Aber am allermeisten von meinen Schülern.“
An der Tür eines anderen stand schlicht: „Es ist, wie es ist.“ Wer diesen Dozenten kannte, wusste, dass er damit weder für Fatalismus noch Verzagtheit das Wort werben wollte. Sondern für ein tiefes Vertrauen, dass Gott alles in der Hand hat („Gott sitzt im Regimente“), und es töricht ist zu glauben, dass wir am Ende für Erfolg und Misserfolg selbst verantwortlich sind. So sehr wir uns auch mühen.
Die richtigen Fragen
Es ist gut, wenn man feste Überzeugungen entwickelt. Und die habe ich. Aber nicht in allen Themen. Oft habe ich erfahren, dass ich am Ende mehr Fragen hatte als vorher. Paradoxerweise muss einen das aber nicht verunsichern, sondern es kann sogar große Gelassenheit schenken.
Warum? Weil man merkt, dass es manchmal nicht nur um die richtigen Antworten geht, sondern um die richtigen Fragen (was ich als Journalist nur doppelt unterstreichen kann). Weil man merkt, dass auch die größten Denker der Geschichte in den seltensten Fällen letztgültige Antworten liefern konnten, weder in die eine noch in die andere Richtung. Weil so vieles, was Menschen meinen, mit ihrem Verstand messerscharf erkannt zu haben, in Wahrheit doch das Ergebnis der Wünsche ihrer Herzen ist.
Nein, man muss seinen Verstand nicht ausschalten, um an den Gott zu glauben, der sich uns liebevoll offenbart hat: in der Bibel, in der Schöpfung, in der Geschichte, in seinem Sohn Jesus Christus. Und manchmal sogar im Lächeln eines Kindes.
Danke, FTH, dass ich das lernen durfte. Auf die nächsten 50 Jahre!