Kulturwissenschaftler: „Evangelikalismus hat Zugkraft verloren“

Der Evangelikalismus hat in den USA als theologische Bewegung an Wirkungskraft verloren. An seine Stelle ist der christliche Nationalismus getreten, sagt der Kulturwissenschaftler Michael Hochgeschwender in einem „Welt“-Interview.
Von Norbert Schäfer
Trump verlässt das Weiße Haus, und damit dürfte auch der Einfluss der weißen evangelikalen Christen in den USA auf politischer Ebene schwächer werden

Der Evangelikalismus hat in den USA als theologische Bewegung an Zugkraft eingebüßt. Das sagt Michael Hochgeschwender, Professor für Nordamerikanische Kulturgeschichte an der Universität München, in einem Interview mit der „Welt“ vom Freitag über das Verhältnis von US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump zu konservativen Christen. An die Stelle des Evangelikalismus als theologische Bewegung sei ein christlicher Nationalismus getreten, der weit bis „ins ultrarechte Lager“ reiche.

Früher hätten die Evangelikalen hauptsächlich auf der Grundlage religiöser Überzeugungen argumentiert und sich dabei auf die Bibel berufen. Heute seien ihre Diskussionen stärker politisch geprägt und legten den Fokus auf Themen wie die Rolle der USA als Nation, Migration und Wirtschaftspolitik.

Weiße Evangelikale sind nach Hochgeschwenders Einschätzung meist sozialkonservativ, gehören überwiegend der Mittelklasse an, leben in Vororten oder ländlichen Gebieten, und orientieren sich stark an der Verfassung und patriotischen Werten, wobei sie sich oft die gesellschaftlichen Verhältnisse der 1950er-Jahre zurückwünschen.

„Symbiose“ trotz moralischer Bedenken

Neben religiösen Gründen bestimmten auch ökonomische Interessen das Wahlverhalten Evangelikaler. „Wem es unter Trump besser ging, dürfte wieder Trump wählen. Wer unter der Biden-Administration ein besseres Leben hatte, wird seine Stimme eher Kamala Harris geben“, sagte Hochgeschwender.

Trotz moralischer Bedenken gegenüber Trumps persönlichem Lebensstil unterstützen viele Evangelikale ihn, weil er sich als bibeltreu präsentiert und ihre politischen Anliegen wie die Ablehnung von Abtreibung vertritt. Es bestehe eine „Symbiose“, bei der Trump von den Evangelikalen profitiere und umgekehrt.

In dem Interview verneint Hochgeschwender die Gefahr, dass es in den USA zu einer Auflösung der Trennung von Staat und Kirche kommen könnte. Das werde oft missverstanden. Die US-Verfassung verbiete eine Staatskirche, schließe aber nicht die Verbindung von Religion und Politik aus. „Die Evangelikalen wollen ihren Glauben keineswegs zur offiziellen Religion im Sinne einer Staatskirche machen, sondern sie wollen ihre religiösen Ziele in der Politik verwirklichen. Und das ist mit der Verfassung vereinbar“, sagte der Kulturwissenschaftler.

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