PRO: Laut den jüngsten Wahlumfragen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg könnte nur in Sachsen die aktuelle Regierungskonstellation fortbestehen. In den anderen beiden Ländern gäbe es keine Mehrheit ohne die AfD oder das „Bündnis Sarah Wagenknecht“ (BSW). Woher kommt der wachsende Zuspruch zu populistischen Parteien?
Christine Lieberknecht: In den vergangenen Jahren waren komplexe Herausforderungen zu meistern, die so niemand auf dem Plan hatte. Wenn ich allein an die Corona-Pandemie denke; die war noch nicht zu Ende, da hat Russland die Ukraine angegriffen und plötzlich ging es um Fragen von Krieg und Frieden in Europa. Solche Herausforderungen provozieren den Ruf nach einfachen Lösungen. Aber die gibt es in der Demokratie nicht.
Warum finden populistische Versprechen in den ostdeutschen Bundesländern offenbar mehr Echo bei Wahlen als in den westlichen?
Die Frage nach populistischen Parteien stellt sich nicht nur in den neuen Ländern. Vor einer solchen Verkürzung würde ich sehr warnen. Auf der anderen Seite sind Ostdeutsche geprägt von einer gewissen Distanz zu Institutionen. Sie trauen ihnen nicht automatisch. Denn sie haben gelernt, dass im Sozialismus eine Regierung, ja, ein System als allmächtig verkündet wurde, was dann krachend gescheitert ist.
Diese Erfahrung macht den Blick auf demokratische Institutionen etwas skeptischer als die jahrzehntelange Erfahrung, dass demokratische Institutionen funktioniert haben. Der Sozialismus hat den Menschen eine „Wahrheit“ oktroyiert. Sie haben daher gelernt, misstrauisch zu sein gegenüber Nachrichten und sie zu hinterfragen – besonders dann, wenn sie im Widerspruch zur eigenen Lebenswirklichkeit stehen.
Und die aktuellen Herausforderungen und Krisen verstärken dann diese Skepsis?
Es gibt nach wie vor eine grundsätzliche Zustimmung zur Demokratie. Aber die Unzufriedenheit damit, wie Demokratie tatsächlich im Alltag und für die Menschen funktioniert, ist gewachsen. Auch die Probleme der Menschen sind größer geworden: Die Folgen der Energiewende etwa haben sie erst seit dem vorigen Regierungswechsel in Berlin zu spüren bekommen, Stichwort Heizungsgesetz.
Eine solche Konfrontation bis in die Keller und Wohnungen der Menschen hat es politisch in den vergangenen drei Jahrzehnten nicht gegeben. Wer die Chancen der Einheit genutzt, sich ein bescheidenes Vermögen aufgebaut hat und dann plötzlich mit Kosten von Tausenden von Euro konfrontiert ist, steht vor einem immensen Problem. Das Gesetz ist in der Form dann zurückgenommen worden, aber der Vertrauensschaden hält an.
Man darf nicht vergessen: Der Großteil der Ostdeutschen hat nach der Wiedervereinigung starke Brüche erlebt; 80 Prozent der arbeitenden Bevölkerung mussten sich nach 1990 im eigenen Beruf weiterbilden oder völlig neue Berufe ergreifen. Manche hatten über Jahre keinen neuen Arbeitsplatz. Das spielt alles mit hinein.
Christine Lieberknecht: Zur Person
- geboren 1958
- 1984 bis 1990 Pastorin im Kirchenkreis Weimar
- 1991 bis 2019 Mitglied des Thüringer Landtags
- zwischen 1990 und 1999 verschiedene Ministerämter: Kultusministerin, Ministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten, Ministerin für Bundesangelegenheiten in der Staatskanzlei)
- 1999 bis 2004 Landtagspräsidentin
- 2004 bis 2008 CDU-Fraktionsvorsitzende
- 2008 bis 2009 Ministerin für Soziales, Familie und Gesundheit
- 2009 bis 2014 Ministerpräsidentin
- seit 1991 stellvertretende Vorsitzende des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU
- seit 2016 Mitglied im Vorstand der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
- Mitglied bei „ProChrist“ und im „Christlichen Jugenddorfwerk“
Die Menschen sind müde von den umwälzenden Veränderungen, die sie mitgemacht haben. Aber die Welt verändert sich nun mal weiterhin – durch Angriffskriege, Klimawandel, Pandemien. Wie können Politiker den Wandel so gestalten, dass es die Menschen nicht in die Arme von Populisten treibt?
Indem man über Veränderungen offen diskutiert und nach den besten Möglichkeiten sucht. Für die Energie- und Klimafrage hieße das: technologieoffen. Aber das ist vonseiten der aktuell Regierenden nicht passiert. Oder dass man differenziert im offenen Diskurs über die Fragen von Krieg und Frieden spricht und nicht nur in Schwarz und Weiß – unbeschadet der Tatsache, dass Putin die Ukraine angegriffen hat, dass er ein Autokrat ist, der die Opposition in seinem Land verfolgt.
Auch in der Pandemiezeit gab es keine wirkliche Diskussion über die Maßnahmen. Sie wurden politisch vorgegeben und mit aller Ordnungsgewalt des Staates umgesetzt. Da hätten sich ebenfalls viele eine offenere Debatte gewünscht.
Meine Erfahrung ist: Wenn man mit Menschen spricht, Pro und Kontra zulässt, einander zuhört, ohne die eigene Meinung für die einzige Wahrheit zu halten, dann haben wir eine völlig andere Situation. Aber diese Diskussion hat in den vergangenen Jahren gelitten. Einer, der diese Diskussion führt, ist zum Beispiel Michael Kretschmer in Sachsen – mit Erfolg.
Der sächsische Ministerpräsident von der CDU steht in der Frage des Krieges in der Ukraine auf einer anderen Position als seine Partei: Er drängt zu mehr diplomatischen Bemühungen und ein Ende der Waffenlieferungen. Ist das Strategie, um der AfD und dem BSW Stimmen abzugewinnen, oder spricht er den Menschen in Sachsen aus dem Herzen?
Ich gehe davon aus, dass ein Ministerpräsident das sagt, wovon er auch selbst überzeugt ist. Man muss authentisch sein und ich denke, dass Michael Kretschmer authentisch ist. Die CDU ist eine Volkspartei, in der es immer auch abweichende Meinungen von der Position des Vorstands gegeben hat. Abgesehen davon ist Herr Kretschmer ja auch im Präsidium der Partei. Eine Volkspartei wird sich nur dann als solche behaupten, wenn sie die Breite der Debatte, die in der Bevölkerung stattfindet, abbildet.
Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund die sogenannte Brandmauer der CDU gegenüber der AfD? Auf kommunaler Ebene arbeiten die Parteien teilweise zusammen. Möglicherweise wird sich das auch auf Landesebene demnächst nicht verhindern lassen.
Die CDU hat die ganz klare Beschlusslage, dass wir nicht mit Extremisten in dieser Gesellschaft koalieren oder gemeinsame Politik machen. Das betrifft die Linke und die AfD. An diesem Grundsatzbeschluss wird auch nicht gerüttelt.
Haben Sie Sorge um die Regierungsfähigkeit in den Bundesländern?
Nein, ich gehe fest davon aus, dass Mehrheiten ohne die AfD möglich sein werden, auch wenn die AfD wie in Thüringen möglicherweise stärkste Partei bei den Landtagswahlen ist. Ansonsten bin ich dafür, jetzt alles daran zu setzen, bei den Wahlen so stark zu werden, dass wir überhaupt in die Situation kommen, zu überlegen, mit wem wir eine Regierung bilden. Eine Regierungsbeteiligung der AfD schließe ich definitiv aus.
Laut den aktuellen Umfragen könnte es dann in den Landtagen zu ungewöhnlichen Koalitionen kommen, wenn etwa SPD oder CDU nur in einer Konstellation mit dem BSW eine Mehrheit erzielen würden.
Ungewöhnliche Situationen werden am Ende auch ungewöhnliche Entscheidungen erfordern. Aber nichtsdestotrotz: Der Unvereinbarkeitsbeschluss der Bundes-CDU gilt.
Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow hat im Frühjahr in einem Interview beklagt, dass die CDU nicht mit seiner Linken koaliert hat, um eine stabile Regierungsmehrheit zu stellen. Deshalb führt er seit 2019 eine Minderheitsregierung an. Sie haben ein persönlich gutes Verhältnis zu Herrn Ramelow. Könnten Sie sich eine Koalition mit ihm und seiner Partei vorstellen?
Ein persönlich gutes Verhältnis sagt ja noch nichts darüber aus, wie man die Partei beurteilt, der jemand angehört. Ein persönlich vertrauensvolles Verhältnis ist für die Politik sicher eine ganz wichtige, auch sehr hilfreiche Sache. Aber was die Prinzipien einer Partei sind, muss gesondert bewertet werden. Das hat die Bundes-CDU im Blick auf die Linkspartei und auf die AfD gemacht.
Welche Chance könnte darin liegen, wenn eine populistische Partei in einem der Bundesländer an der Regierung beteiligt ist?
Zunächst müsste man mal klären, was „populistische Partei“ überhaupt heißt. Es gibt keine Demokratie, wo nicht auch ein gewisser Populismus eine Rolle spielt. In einer Diktatur haben Sie keinen Populismus.
Konkret meinte ich die AfD und das BSW.
Diese Parteien sind natürlich eine Herausforderung und die müssen die anderen Akteure in einer Demokratie auch annehmen. Man muss sich mit den Problemen beschäftigen, die diesen Parteien und ihrem Erfolg zugrunde liegen. Der Thüringer Spitzenkandidat der CDU, Mario Voigt, hat das gemacht und ein TV-Streitgespräch mit dem AfD-Spitzenkandidaten Björn Höcke geführt.
Halten Sie diese inhaltliche Konfrontation für den richtigen Weg im Umgang mit der AfD?
Ich halte das für notwendig. Man darf Menschen nicht ihren eigenen Blasen überlassen. Denn da gibt es ja keinen Widerspruch, sondern nur Verstärkung. Nur in der direkten Konfrontation kann man zeigen, was zielführend für die Menschen ist und was ihnen am Ende nur schadet.
Welche Rolle spielt in Ihren Augen die mediale Berichterstattung dafür, wie die gesellschaftlichen Debatten geführt werden?
Hier kann ich nur von Eindrücken sprechen. Objektiv berücksichtigen Medien sicher sehr viele Themen und Aspekte. Aber in einem Mainstream der Medien sehen Menschen teilweise eine Diskrepanz zu ihrer Lebenswelt und ihren Erfahrungen. Nehmen wir das Beispiel Corona: Während der Pandemiezeit fand wenig wirklich ausgewogene Diskussion über die Maßnahmen statt.
Aber jetzt wird, nicht zuletzt durch die veröffentlichten Protokolle des Robert-Koch-Instituts, deutlich, wie differenziert die Lage war. Viele Menschen hatten durchaus auch während der Pandemie ein differenziertes Bild, was aber kaum medial gespiegelt worden ist.
Die Kirchen haben sich ebenfalls zur AfD geäußert und vor einer Wahl dieser Partei gewarnt. Wie bewerten Sie das?
Mein Eindruck ist, dass das Echo auf die Appelle der Kirchen eher verhalten ist – sowohl medial als auch bei denen, an die sich diese Aufrufe richten. Natürlich ist es richtig und wichtig, dass Kirchen sich positionieren, was unsere Demokratie betrifft. Wenn sie aber ihren ureigenen Kernaufgaben nachgeht, erzielt sie am meisten Wirkung. Das heißt, den Menschen persönliches Rüstzeug zu geben durch einen Glauben, der trägt, der ein positives Weltbild vermittelt und die Christen wacker im Leben stehen lässt.
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Mit Blick auf Ihr Bundesland Thüringen: Was sind die drängendsten Probleme, die eine zukünftige Landesregierung anpacken muss?
Wir brauchen eine Initiative gegen den Unterrichtsausfall an den Schulen. Das heißt: mehr Lehrer. Und wir brauchen eine Verstärkung der inneren Sicherheit. Das sind Themen, für die das Land tatsächlich auch zuständig ist. Aber das Erscheinungsbild der Bundespolitik überlagert das.
Wenn möglicherweise zwei der drei regierenden Parteien in Berlin nicht mehr in den Landtag einziehen, dann weiß ich nicht, welche Denkzettel und welche Maßnahmen noch ergriffen werden sollen, damit Parteien verstehen, dass sie letztlich an den Bedürfnissen der Menschen vorbei regieren.
Was macht Ihnen Hoffnung, dass die Demokratie in Deutschland eine gute Zukunft hat?
Die Nüchternheit, die Vernunft und auch die positive Demokratieeinstellung vieler Menschen im Land, die ich täglich erlebe; von Menschen, die einfach ihren Alltag gestalten möchten, sich einen bescheidenen Wohlstand erarbeiten, die das Beste für ihre Kinder und Enkel in Zukunft wollen und sich dafür auch einsetzen. Wir haben ein unglaublich hohes Potenzial an Menschen, die ehrenamtlich tätig sind. Mehrheitlich erlebe ich die Grundeinstellung: Frage nicht, was dein Land für dich tut, sondern tu das, was für dein Land notwendig ist.
Vielen Dank für das Gespräch!