In Deutschland gibt es kein Gesetz zum Umgang mit Suizidbeihilfe. Zuletzt scheiterte ein Gesetzgebungsverfahren im vergangenen Jahr – keiner der beiden Vorschläge erhielt eine ausreichende Mehrheit der Abgeordnetenstimmen im Deutschen Bundestag. Schon vor diesem Gesetzgebungsverfahren wurden Stimmen laut, die erklärten: Es braucht eigentlich gar kein Gesetz. Die Theologen Reiner Anselm und Peter Dabrock schrieben in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Gesetze schwächten die rechtliche Position von Ärzten, unmoralisches Vorgehen sei ohnehin nicht zu erwarten. Und ihr vielleicht interessantestes Argument: Ein Gesetz könne zur Normalisierung von Suizidbeihilfe beitragen, indem es das Handeln von Sterbehilfevereinen staatlicherseits legitimiere.
Sie haben Unrecht
Ein Jahr später zeigt sich: Sie haben Unrecht. In Sachen Sterbehilfe macht in Deutschland derweil jeder sein eigenes Ding, weil niemand mehr durchblickt. Das führt einerseits dazu, dass Sterbehilfevereine, also jene Gruppen, die Suizidwilligen gegen Mitgliedsbeiträge Sterbehelfer und Sterbeorte vermitteln, weitgehend unbehelligt arbeiten. Der Verein „Sterbehilfe“ etwa führt auf seiner Internetseite über 4.000 Mitglieder an, fast doppelt so viele wie Ende 2022. 196 „Suizidbegleitungen“ führte der Verein im Jahr 2023 durch, auch diese Zahl ist steigend.
Das ist die eine Seite. Die andere sieht so aus: Im April wurde der Berliner Arzt Christoph Turowski, auch in einem Sterbehilfeverein organisiert, zu drei Jahren Haft verurteilt, weil er einer depressiven Patientin geholfen hatte, sich das Leben zu nehmen. Aus Sicht des Gerichts handelte er voreilig, die Frau sei aufgrund ihrer Erkrankung nicht gefestigt in ihrer Entscheidung gewesen. Obwohl sie den Suizid zwei Mal mithilfe des Arztes versuchte. Beim ersten Mal erbrach sie die Tabletten.
Ist Suizidbeihilfe nun also legal? Oder ist sie es nicht? Jede Entscheidung, die Mediziner, Angehörige oder Vereine derzeit dazu treffen, fußt auf einem Spruch des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2020. Dieser kippte nicht nur ein bereits 2015 verabschiedetes Gesetz, das etwa Sterbehilfevereine verbot und der Suizidbeihilfe klare Grenzen setzte. Es beschied auch, dass jeder Mensch nicht nur das Recht auf „selbstbestimmtes Sterben“ habe, sondern auch das Recht, dazu Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Keine Rechtssicherheit, steigende Suizidzahlen
Dass das allein keinerlei Rechtssicherheit für Ärzte bietet, wird mit Blick auf das Berliner Urteil klar. Dass es sogar dazu beiträgt, Suizidbeihilfe salonfähig zu machen, darauf deuten nicht nur die gestiegenen Mitgliedszahlen des Sterbehilfevereins hin. Der Berliner „Tagesspiegel“ berichtete jüngst über eine Studie, die belegt, dass die Zahl der Suizide seit der faktischen Legalisierung von Sterbehilfe in Deutschland gestiegen sind. Möglicherweise ein Zeichen für gewachsene Akzeptanz.
Die Forscher stellten auch fest, dass die Kriterien für Suizidbeihilfe nicht einheitlich und oft auch nicht gängigen Standards entsprachen, etwa einem größeren zeitlichen Abstand zwischen der Begutachtung eines Patienten und dem Vollzug.
Kurzum: Es herrscht Chaos und durch dieses Chaos Unsicherheit gepaart mit dem nun verfassungsgerichtlich garantierten Recht auf Sterben nach den eigenen Bedingungen. Schon diese Mischung kann kaum eine gute sein.
Hinzu kommt aber auch, zumindest im evangelischen Bereich, eine Zurückhaltung beim Thema. Noch 2014 stellten sich die Protestanten klar gegen Sterbehilfe, doch seit das Gesetzes-Tohuwabohu begann, zog wohl auch die Unsicherheit in die theologischen Denkkammern der Evangelischen Kirche in Deutschland ein. Vor dem Gesetzgebungsprozess im vergangenen Jahr jedenfalls äußerte sich die Kirche nicht klar zu ihrer Haltung, befürwortete keinen der beiden Gesetzesentwürfe. Vereinzelt zogen Funktionäre schon die Möglichkeit legaler Sterbehilfe in evangelischen Einrichtungen in Betracht, andernorts wurde das harsch abgelehnt.
Bethel erlaubt Sterbehilfe
Diese Gemengelage hat nun wohl dazu geführt, dass die erste große evangelische Einrichtung öffentlich erklärt hat, Suizidbeihilfe in den eigenen Häusern zuzulassen. Gemeint sind die „Die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel“, ausgerechnet jene Einrichtung, in der die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, Annette Kurschus, neuerdings Ethik-Kommissionsvorsitzende ist. Bethel wolle noch in diesem Jahr einen Leitfaden entwickeln, der Mitarbeitern helfen soll, mit suizidalen Menschen umzugehen. Selbst wenn ein Mensch auf den Suizid bestehe, „werden wir seelsorgerisch bis zuletzt an seiner Seite sein“, versicherte Kurschus am Mittwoch.
Vorangegangen war ein dreijähriger Prozess, erklärten die Verantwortlichen bei Bethel. In dieser Zeit habe die Einrichtung ein juristisches Gutachten erstellen lassen, das die Grundlage für die Entscheidung bildet. Denn auch „Die v. Bodelschwinghschen Stiftungen“ stünden in der Pflicht, das Grundrecht eines Patienten auf selbstbestimmtes Sterben zu respektieren.
Anbietern assistierten Sterbens solle der Zugang zu den Patienten und Bewohnern nicht verwehrt werden, erklärte der zuständige Professor für Bürgerliches Recht, Rechtsphilosophie und Medizinrecht an der Universität Münster, Thomas Gutmann laut dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Gesetzgeber und Kirche in der Pflicht
Anders gesagt: Weil es kein Gesetz für den Umgang mit Suzidbeihilfe gibt und wohl auch, weil die Evangelische Kirche in Deutschland ihren angegliederten Werken keinen klaren Leitfaden mit auf den Weg gibt, sah sich nun eine Stiftung dazu gezwungen, auf eigene Faust und mithilfe von Juristen den Rechtsspruch des Bundesverfassungsgerichts für sich interpretieren zu lassen. Den Schritt kann man begrüßen oder die Konsequenzen daraus für zu weitgehend halten. Eines aber sollte klar sein: Es ist eigentlich nicht die Aufgabe sozialdiakonischer Einrichtungen, Verfassungsrichtersprüche interpretieren zu müssen. Das Chaos ist perfekt.
Mindestens der Gesetzgeber, wohl aber auch die Gremien der Kirche, sind einmal mehr zum Handeln aufgefordert. Im Bundestag arbeiten derweil schon wieder Abgeordnetengruppen an neuen Gesetzesvorlagen. Hoffentlich können sie dieses Mal mehr Abgeordnete mitnehmen, sodass notwendige Mehrheiten erreicht werden. Die Evangelischen sollten derweil, ganz nach Vorbild der katholischen Geschwister, ihre Stimme dazu (wieder)finden.