Kirchen-Anwalt im Auftrag der Stasi

Jahrelang engagierte sich der DDR-Anwalt Wolfgang Schnur in der evangelischen Kirche, vertrat Wehrdienstverweigerer und Dissidenten. Er wollte am Ende frei gewählter Ministerpräsident eines untergehenden Staates werden. Bis herauskam, dass er für die Stasi gearbeitet hatte.
Von PRO
Wolfgang Schnur, 1996

Ein Bild, das im März 1990 um die Welt ging: DDR-Anwalt Wolfgang Schnur auf den Fluren des katholischen Alexianer Sankt-Hedwig-Krankenhauses in Berlin-Mitte, mit Morgenmantel, Pantoffeln und ängstlichem Blick in die Kamera; kurz nachdem er als heimlicher Informant der Staatssicherheit (Stasi) enttarnt worden war und einen Kreislaufkollaps erlitten hatte. Dennoch gab Schnur bereitwillig Interviews, um sich zu „erklären“, wie er sagte.

Mitte der achtziger Jahre hatte die DDR-Staatssicherheit Wolfgang Schnur vom einfachen inoffiziellen Mitarbeiter IM, der er seit 1965 war, zum IMB, will sagen: zu einem mit „Feindberührung“ befördert. Das hieß, dass Schnur als aktiver Zerstörer in oppositionelle Zirkel eindringen sollte, um im Keim das zu verhindern, was den SED-Staat im Herbst 1989 doch zum Einsturz gebracht hat. Als Gruppen und Grüppchen von Unzufriedenen binnen Wochen zu einer Massenbewegung mutierten und die DDR schon bald Geschichte war.

Schnur war sogar an der Gründung der Bürgerrechtsbewegung „Demokratischer Aufbruch“ beteiligt und wurde zu ihrem Vorsitzenden gewählt. In der Oppositionsbewegung hatte er sich einen Namen gemacht. Als der „Spiegel“ Aktenfunde öffentlich machte, die belegen, dass er für die Stasi tätig war, stellte das sein Engagement ins Zwielicht.

Jahrzehntelange hatte der Anwalt Freunde, Familie und Politiker an der Nase herumgeführt; und zugleich ein für DDR-Verhältnisse mondänes Leben geführt, mit schnellen Autos, edlem Zwirn und schönen Frauen, so Pfarrer Rainer Eppelmann, nur eines von vielen Schnur-Opfern. Eine Karriere, die Schnur nicht in die Wiege gelegt war. Von der Mutter 1944 ins Heim gegeben, Vater unbekannt wuchs er ab seinem zweiten Lebensjahr bei Adoptiveltern auf, kinderlosen Neubauern im Dorf Natzevitz auf Rügen, in einem intellektuell eher weniger anregenden Umfeld. Erst kurz vor ihrem Tod im Jahre 1993 hat sich Schnur mit seiner leiblichen Mutter, angeblich einer Jüdin, die den Krieg überlebt hatte, versöhnt.

Christen im Visier

„Inoffizielle Mitarbeiter mit Feindberührung waren die Schlimmsten unter den Schlimmen“, sagt Eppelmann, zugleich letzter DDR-Verteidigungsminister und späterer Bundestagsabgeordneter, über seinen langjährigen Freund. „Diese sollten nicht nur Informationen sammeln, sondern den politischen Gegner zerstören“, sagt er. Eppelmann, mittlerweile 81 Jahre alt, ist bis heute bestürzt über die Verstrickungen Schnurs in die kommunistische Diktatur.

Die Freundschaft dürfte dem alleinigen Zweck gedient haben, Eppelmann im Auftrag der Stasi zu „vernichten“, vermuten Historiker. Denn der umtriebige Pastor aus der Berliner Samariterkirche galt im SED-Staat als oppositioneller Hardliner; jemand, der auch lange vor Gorbatschow kein Blatt vor den Mund genommen und die Diktatur beim Namen genannt hat. Mitte der neunziger Jahre sei ihm Schnur bei einem Gerichtsprozess in Rostock zuletzt begegnet, sagt Eppelmann.

Die 39 Aktenbände, die im Frühjahr 1990 in der ehemaligen Rostocker Stasi-Bezirksverwaltung zutage traten, sprechen eine deutliche Sprache. In 25 Jahren seiner Zusammenarbeit mit der DDR-Staatssicherheit hat Schnur nahezu alles berichtet, was ihm Mandanten und Kollegen in der evangelischen Kirche anvertraut hatten. Manche saßen wegen politischer Vergehen in Haft, andere hatten als Bausoldaten den Dienst an der Waffe verweigert. Hinzu kamen Berichte aus Gremiensitzungen der evangelischen Kirche, in der sich „Bruder Schnur“ ab Mitte der siebziger Jahre einen Namen gemacht hatte.

Er war Mitglied den Synoden der Evangelischen Kirche in Mecklenburg und des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR. Zeitweilig war er sogar Vize-Synodenpräsident der Evangelischen Kirche der Union, also den Kirchen der früheren preußischen Provinzen – zu denen ost- und westdeutsche gehörten. Schnur hat vielen seiner inhaftierten Mandanten nicht nur inoffizielle Stasibefehle eingeflüstert, sondern auch „Andacht“ mit ihnen gehalten, wie seine IM-Akte verrät. Schnur war in der DDR einer von nur wenigen hundert Einzelanwälten gewesen, da „Unrecht“ im Arbeiter- und Bauernparadies laut Staatsdoktrin nicht vorsehen war.

Wolfgang Schnur „Demokratischer Aufbruch“
Der Vorsitzende Wolfgang Schnur eröffnete den Gründungsparteitag der sozial und ökologisch ausgerichteten Partei „Demokratischer Aufbruch“ im Dezember 1989.

Viele zehntausend Kilometer legte er im Jahr per Pkw zurück, quer durch die DDR und auch im westlichen Ausland; von einem Termin zum nächsten und dazwischen immer wieder Treffen mit Führungsoffizieren der Staatssicherheit, oft im Auto in Nebenstraßen und auf Waldlichtungen. Vieles ist auf Tonbändern gespeichert und liefert einen faszinierend-gruseligen Eindruck vom pathologischen Innenleben eines Menschen, der gegenüber seinen Mandanten einen auf Christ machte, beim DDR-Geheimdienst den „Kommunisten“ mimte und im März 1990 zusammen mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) in Erfurt auf einer Wahlkampfbühne stand.

Kurz darauf der Absturz. Als Schnur durch lancierte Presseinformationen ans Messer geliefert wurde, und sein Traum vom Amt des ersten frei gewählten DDR-Ministerpräsidenten ein jähes Ende fand.

Mielkes Musterschüler

Nach der Schule absolvierte IM „Torsten“ alias Wolfgang Schnur zunächst eine Maurerlehre und trat als Jungfunktionär in Erscheinung. Journalist wollte der begabte Schüler werden und heuerte dafür, als die innerdeutsche Grenze noch durchlässig war, bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an. Doch die schickte ihn zu Recherchezwecken zurück in die Ostzone, was Schnur ablehnte und stattdessen reuig um Wiederaufnahme in die Welt des real existierenden Sozialismus bat; eine Bitte, die ihm nach einigem Hin und Her auch gewährt wurde.

Mit Anfang zwanzig dann die Bewerbung bei der Stasi, in Abendkursen das Abitur nachgeholt und zumindest zeitweilig darauf hoffend, als hauptamtlicher Geheimdienstler Karriere zu machen. Doch auch daraus wurde nichts. Denn als verdeckt arbeitender Kirchenanwalt war Schnur den Genossen wertvoll genug, um ihn bis zum Untergang ihres Staates als inoffiziellen Zuträger und Einflussagenten an der Leine zu halten; geködert durch Geldprämien, Urkunden und einen aus Westdeutschland importierten Mercedes-Benz, der sein ganzer Stolz gewesen sei, wie sich Weggenossen erinnern. Nach Recherchen Alexander Kobylinskis soll Stasi-Minister Erich Mielke persönlich dafür die Einfuhrgenehmigung erteilt haben.

Den Benz hatte sich Schnur in Augen der Stasi redlich verdient. 1973 hatte ihr Zögling an der Berliner Humboldt-Universität (HU) sein Jurastudium mit der Note „gut“ beendet und wurde Anwalt in Binz auf Rügen; später in einer Villengegend am Berliner Müggelsee, auch mit finanzieller Hilfe der Bundesregierung, bei der Schnur seit Beginn der achtziger Jahre als engagierter „Menschenrechtsanwalt“ galt. Später lebte er mit einer 20 Jahre jüngeren Frau, einer Naturheilpraktikerin und dem gemeinsamen Sohn auf einem Anwesen in Groß-Köris bei Berlin.

Wie Hund und Herrchen

Nach dem Mauerfall kam heraus, dass der Bereich Kriminalistik an der Berliner Humboldt-Universität eine verdeckte Abteilung der DDR-Staatssicherheit gewesen war, was Schnurs beruflichen Ambitionen zumindest nicht unförderlich gewesen sein dürfte. Fünf Dozenten fungierten in der Humboldt-Kriminalistik als „Offiziere im besonderen Einsatz“ (OibE), um den Bereich unter Kontrolle zu halten; wozu auch naturgemäß Entscheidungen über bestandene und nicht bestandene Examina zählten. Zudem befasste sich die Stasi-Hauptabteilung XX/8 mit der systematischen Überwachung aller DDR-Hochschulen.

„Schnur benahm sich im Verhältnis zu SED und Staatssicherheit wie ein Hündchen, das um die Beine seines Herrchen scharwenzelt, immer auf der Suche nach Nähe, Bestätigung und irgendwelchen Leckerlis“, bilanziert die Bonner Historikerin Jenny Krämer. In der Tat, viele Leckerlies wurden Schnur gewährt. Doch haben sie ihn nicht davor bewahrt, am Ende vor den Trümmern eines gescheiterten Lebens zu stehen.

Wie genau sich die letzten Lebensjahre Schnurs zwischen Wien und Potsdam abgespielt haben, lässt sich indes nur noch vage rekonstruieren. Vieles deutet darauf hin, dass er am Ende recht trostlos gelebt hat, mittellos, abgehängt und von besseren Tagen träumend. Den Sterbeplatz im Ottakringer Spital in Wien habe ihm ein ehemaliger Genosse vermittelt, sagt TV-Produzent Jürgen Haase, auch weil „der Medienrummel dort geringer“ war als in Deutschland. Und dass Schnurs Leichnam später klammheimlich in die Heimat gebracht worden sei. Weitere Angaben Fehlanzeige.

Neben elf Kindern mit verschiedenen Frauen hat der einst gefeierte Jurist Millionen Euro Schulden hinterlassen, nachdem Immobiliengeschäfte aus dem Ruder gelaufen waren; hinzu kamen undurchsichtige Deals mit Aktien und Müll und ein kurzfristiges Engagement in der Hotelbranche. Ob Schnur auch Goldgeschäfte in Ghana betrieben hat, wie eine Berliner Zeitung Mitte der neunziger Jahre gemutmaßt hatte, blieb ungeklärt.

Seine Zulassung hatte Schnur bereits 1993 verloren, wegen Mandantenverrats, was in seiner Branche als No-go-Tat gilt und am Ende auch vom Bundesgerichtshof (BGH) so gesehen wurde. Es folgten Jobs als Investitionsberater und Geldbeschaffer für einen dubiosen Fonds in England sowie Verurteilungen zu Geld- und Bewährungsstrafen; unter anderem wegen der Beleidigung eines Richters und „politischer Verdächtigung“, weil Mandanten durch Schnurs zwielichtiges Taktieren kurzzeitig im Gefängnis gelandet waren.

Gier nach Anerkennung

Doch der Staat, dem Schnur diente, war mehr als eine Diktatur der Mächtigen über die Ohnmächtigen. Er brachte auch Menschen zutage, die keine Skrupel kannten, um für Macht und Einfluss zu lügen, zu täuschen und über Leichen zu gehen. Viele Schnur-Mandanten sind verstorben oder leiden weiter an ihren Hafterlebnissen. „Es war die Gier nach Anerkennung, Reichtum und Zuneigung, die sich wie ein roter Faden durch das Leben des Wolfgang Schnur zieht“, sagt der Buchautor und Diakon Lothar Rochau aus Halle. 2021 hat Rochau seine Erlebnisse mit Schnur in einem Buch verarbeitet, das im Mitteldeutschen Verlag erschienen ist.

Sein letztes Fernsehinterview gab Schnur in Potsdam, in der Wohnung seiner Ex-Frau, die den damals schon todkranken Vater ihrer drei gemeinsamen Kinder bei sich aufgenommen hatte. Das Interview war Grundlage für den Dokumentarfilm „Der Fall Wolfgang Schnur“ (2017/rbb). Am 8. Juni 2016, 26 Jahre nach seiner Enttarnung, stirbt Wolfgang Schnur. Seine letzte Postadresse in Wien: Gallmayergasse 7-9, Appartement Nr. 4, Stadtteil Döbling, neunzehnter Bezirk. So steht es in seiner Krankenakte, die erhalten geblieben ist.

Schnurs Grab befindet sich heute auf dem Sophienfriedhof in Berlin, ein schlichtes Nummerngrab mit Namensschild, weiß Filmproduzent Jürgen Haase. Er hat über Schnurs Innenleben ein Theaterstück und ein Sachbuch veröffentlicht; ein Leben, das wohl eher ein Doppelleben gewesen sein dürfte.

Von: Benedikt Vallendar, geboren 1969 und aufgewachsen im Rheinland, freier Journalist und Berichterstatter der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM). 2004 wurde er an der FU Berlin im Fach Neuere Geschichte promoviert. 

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