Der bekannte amerikanische Theologe, Prediger und Bestsellerautor Jim Wallis hat ein vielbeachtetes Buch über „das falsche weiße Evangelium“ geschrieben, über einen christlichen Nationalismus in den USA und wie notwendig es gerade jetzt für Christen ist, die Demokratie neu zu begründen. Wallis, der spiritueller Berater von US-Präsident Barack Obama war und Gründer der christlichen Zeitschrift „Sojourners“ ist, deckt auf, wie weiße christliche Nationalisten ihren Hass in das Gewand ihres Glaubens gekleidet haben. Ein Buch, das umso wichtiger im Wahljahr ist – im November stehen die 60. Präsidentschaftswahlen in den USA an.
Das Buch „The False White Gospel“ verdeutlicht, welches Bild Trump und seine Anhänger vom Christentum haben und beantwortet Fragen wie: Warum sind weiße Evangelikale zu Donald Trumps stärksten Unterstützern geworden? Wallis gilt als Evangelikaler des linken politischen Spektrums in den USA. Er gründete 1975 die christliche Zeitschrift „Sojourners“ sowie eine gleichnamige christliche Gemeinschaft mit Sitz in Washington, D.C. Seit 2021 ist er Inhaber des Erzbischof-Desmond-Tutu-Lehrstuhls für Glaube und Gerechtigkeit an der Georgetown University und Direktor des neuen Zentrums für Glaube und Gerechtigkeit.
Sein Buch, das bisher nur auf Englisch erhältlich ist, erfuhr in den USA große Beachtung, zahlreiche prominente Christen empfahlen es oder diskutieren öffentlich darüber. „Eine Pflichtlektüre für jeden, der sich Sorgen um die Zukunft dieser Republik namens Amerika macht“, sagte Otis Moss III, leitender Pastor der Trinity United Church of Christ in Chicago. „Ein dringendes, notwendiges und wesentliches Buch von einer der wichtigsten christlichen Stimmen unserer Zeit“, sagte Pastor James Martin (SJ), als christlicher Experte häufiger Gast in US-amerikanischen Fernsehsendern. Der gläubige Rock-Sänger Bono (U2) nannte Wallis „Balsam und zugleich ein Ärgernis, ein Friedens- und ein Unruhestifter“. „Wir befinden uns in einem Kampf um die Seele Amerikas“, schreibt Eddie Glaude, Professor für Afroamerikanistik an der Princeton University, im Vorwort. „Aber es ist nicht nur ein politischer Kampf und war es auch nie. Wir führen einen moralischen Kampf darüber, wer wir sind und in was für einem Land wir leben wollen.“
„Wie könnte eine Bekennende Kirche in Amerika heute aussehen“
Was auf dem Spiel steht, erklärt Wallis so: „Wir befinden uns buchstäblich in einem Kampf zwischen falscher Religion und wahrem Glauben und zwischen Rassenfaschismus und multikultureller Demokratie.“ Der landesweit bekannte Pastor spricht sogar von einem „christlichen Widerstand“ und dass es geradezu einen „Bonhoeffer-Moment“ für die amerikanische Kirche gebe. „Wie könnte eine Bekennende Kirche in Amerika heute aussehen?“, fragt der Theologe, der in den USA als renommierter Kommentator zu politischen Themen wahrgenommen wird. Er erhoffe sich, dass diese Frage ein Gespräch im ganzen Land auslösen könne. (Interessanterweise verbrachte gerade Bonhoeffer bei seinem Aufenthalt in New York viel Zeit in einer schwarzen Gemeinde in Harlem. „Seine Begegnung mit der Theologie, der Predigt, dem Gottesdienst und der Musik der Schwarzen prägte entscheidend die Entwicklung und Bildung der Bekennenden Kirche in Deutschland, obwohl er wusste, dass dies ihn das Leben kosten könnte“, schreibt Wallis.)
Das „falsche weiße Evangelium“, das US-Präsident Donald Trump wie kein anderer propagiere, werde nicht nur in vielen weißen Megakirchen gepredigt, auch Nachrichtensender, rechte Radiosender und verschwörerische Webseiten übertönten jedes Gespräch über die wahre Gerechtigkeit im Evangelium. Ein Pastor einer Megakirche habe ihm einmal gesagt: „Jim, ich habe nur zwei Stunden in der Woche, um zu meinen Mitmenschen zu sprechen. Fox News beschallt sie rund um die Uhr. Da kann ich einfach nicht mithalten.“
MAGA-Kirchen und MEGA-Kirchen
Der weiße christliche Nationalismus widerspreche dem, was Jesus über die Liebe zu unseren Nächsten und sogar zu unseren Feinden sagt, so Wallis. „Christlich“ werde hier immer mit Machtanspruch verbunden, anstatt mit Dienst oder mit Jesu Missionsbefehl, in die ganze Welt zu gehen und Menschen in allen Nationen zu Jünger zu machen. Ihm selbst sei als Jugendlicher in seiner evangelikalen Gemeinde beigebracht worden: „Christentum hat nichts mit Rassismus zu tun – das eine ist politisch, unser Glaube ist persönlich.“ Dabei beteten Christen, die so denken, gleichzeitig Woche für Woche im Vaterunser: „Dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch auf Erden.“ Wallis: „Der weiße christliche Nationalismus ist die größte Bedrohung für die Demokratie in Amerika und für die Integrität des christlichen Glaubens.“ Der Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 habe das Versagen der Politik gezeigt, eine friedliche Lösung für die tiefe kulturelle Polarisierung in den USA zu finden.
Der Wahltag, der 5. November 2024, wird laut Wallis entscheiden, ob die Demokratie in Amerika aufgrund illegaler, korrupter und gewalttätiger Handlungen inmitten rassistischer und sozialer Konflikte überleben oder zusammenbrechen wird. Der Theologe geht der Frage nach, wie es zu diesem Zustand kommen konnte und geht dabei zurück bis zu den puritanischen Predigern Neuenglands im späten 16. und frühen 18. Jahrhundert, die bereits überzeugt waren, dass Amerika ein von Gott für sein weißes Volk bestimmtes Land sei. Selbst die Gründerväter und fest in protestantischer Überzeugung stehende Politiker hielten Sklaven. Schwarze wurden als Nachkommen Kanaans gesehen, des Sohnes Hams, der zur Sklaverei verurteilt wurde, als er seinen Vater Noah betrunken und nackt sah und es versäumte, ihn zu bedecken. Es geht in Wallis‘ geschichtlichem Überblick bis zur heutigen Verbindung zwischen den MAGA-Republikanern („Make America Great Again“) und den MEGA-Kirchen, die – so Wallis – mittlerweile ebenfalls zu MAGA-Kirchen geworden seien.
„Moral spielt keine Rolle. Werte spielen keine Rolle. Nur Macht zählt.“
Donald Trump habe schon früh in seiner ersten Kandidatur von mexikanischen Einwanderern vor allem als Vergewaltigern, Kriminellen und Drogendealern gesprochen. „Er bezeichnete seine politischen Gegner als schwach und erbärmlich. Er machte sich offen über das Aussehen anderer lustig, sogar über ihre Behinderungen.“ Wallis weiter: „Die alte religiöse Rechte, die zu Trumps religiösen Kriegern wurde – fügte Kirche und Staat einen verheerenden Schaden zu. Moral spielt keine Rolle. Charakter spielt keine Rolle. Werte spielen keine Rolle. Die Behandlung von Frauen oder Armen spielt keine Rolle. Nur Macht zählt. Und der Glaube wird übertrumpft.“ (Das englische Wort „trumped“ kann man mit „übertrumpfen“ übersetzten).
Weltweit bekannt wurde Trumps Aktion, als er bei einer gewaltlosen Demonstration in Washington D.C. das Militär um Hilfe bat, ihm einen Weg zu bahnen, um dann vor der St. Johns Episcopal Church ein Foto von sich machen zu lassen, wie er eine große Bibel verkehrt herum in die Höhe hält. „Trumps umgedrehte Bibel wurde im ganzen Land und in der ganzen Welt zum mächtigen Bild eines Tyrannen, der sowohl den wahren Glauben als auch die echte Demokratie auf den Kopf stellt“, schreibt der Theologe. Die Frage von Journalisten nach seinem Lieblings-Bibelvers konnte Trump indes nicht beantworten.
Wallis prangert in seinem Buch die politische Übernahme des Evangelikalismus an als ein „weißer Evangelikalismus“, der eine „Trumpifizierung“ erfahren habe. Er erinnert an fatale Botschaften republikanischer Politiker, die christlichen Glauben mit Machtanspruch verbanden. Er erinnert etwa an die republikanische Abgeordnete Marjorie Taylor Greene, die vorschlug: „Wir müssen die Partei des Nationalismus sein, und ich bin Christin und sage es mit Stolz: Wir sollten christliche Nationalisten sein.“
Wallis appelliert: „Wir müssen zwischen falscher und wahrer Religion unterscheiden.“ Jesu Gleichnis vom barmherzigen Samariter müsse wieder ganz neu bedacht werden. Denn diese Geschichte zeige, dass der Nächste eben nicht der Nachbar ist. Wer ist aber mein Nachbar? „Der Geschichte zufolge ist es jeder, der mich in Not ruft, und ich reagiere auf diese Not.“ Jesu Weisung „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ könne man Wallis zufolge einen Nachsatz hinzufügen: „Keine Ausnahmen.“ Das radikale Gebot „Liebt einander!“ habe nichts zu tun mit „Wir“ gegen „die“.
Es war eben jene Kellyanne Conway, ehemalige leitende Beraterin von Donald Trump, die von „alternativen Fakten“ sprach und damit die Verstrickung von Lügen, Medien und Machtmissbrauch verdeutlichte. „Lügen sind zu einem Markenzeichen sowohl des politischen Diskurses als auch der Art und Weise geworden, wie Nachrichten übermittelt und konsumiert werden“, schreibt Wallis.
Wenn Jesus von der Wahrheit spreche, meine er mehr als „Lüge nicht“: „Selbst, wenn wir unwissentlich Lügen glauben oder unterstützen, verstricken wir uns in einem Netz der Unehrlichkeit, das unsere Seelen nach und nach tötet. Wir sitzen in der Falle, und genau aus diesem Grund ist Satan als ‚Vater der Lügen‘ bekannt (Johannes 8,44)“.
Vieles in Wallis‘ Buch kann man auch auf Europa übertragen. Viele Menschen seien etwa „den Medien“ gegenüber müde und misstrauisch geworden und hätten begonnen, „nach anderen Nachrichtenquellen zu suchen“. Der Pastor fährt fort: „Leider hat diese Ablehnung der Mainstream-Medien dazu geführt, dass viele sich extrem parteiischen Nachrichtenquellen zuwenden, die noch weniger Kontrolle und Rechenschaftspflicht haben. (…) Trotz unserer wachsenden Skepsis gegenüber Politik und Medien besteht Grund zu der Annahme, dass wir dennoch anfälliger
für Medieneinfluss sind als je zuvor. Kabelnachrichtensender und politische Eliten machen sich den Reiz zunutze, Menschen in feindliche Lager zu spalten (…).“ Erschütternderweise hält Donald Trump bis heute am Mythos von der „großen Lüge“ fest, derzufolge er die letzte Wahl eigentlich gewonnen hat. Einer Untersuchung der „New York Times“ zufolge haben mehr als 370 republikanische Kandidaten, die bei den Halbzeitwahlen 2022 antraten, das Ergebnis der Wahlen von 2020 in Frage gestellt und zeitweise sogar rundheraus geleugnet, obwohl es überwältigende Beweise für das Gegenteil gab.
Wallis ist überzeugt: „Lügen führen zu Gewalt.“ Das habe in den USA final der 6. Januar gezeigt, bei dessen Angriff auf die Demokratie fünf Menschen getötet und 140 verletzt wurden. Der Pastor betont: „In Matthäus 5,9 heißt es: Selig sind die Friedensstifter, denn sie werden Kinder Gottes genannt. – Jesus hat nie gesagt: Selig sind die Friedensliebenden. Jesus sagte auch nie: Selig sind die Friedenserhalter. Diejenigen, die sich dem Konflikt direkt stellen und stattdessen Heilung bringen, sagte Jesus, sind die Kinder Gottes.“
Das Buch rüttelt Christen wach und lässt sie neu daran denken, was der Trumpismus eigentlich wirklich mit dem Christentum zu tun hat. Am Ende ist wohl auch ein Leser aus Deutschland mit Wallis so gut wie überzeugt: „Wir brauchen eine Theologie der Demokratie“.
Jim Wallis: The False White Gospel: Rejecting Christian Nationalism, Reclaiming True Faith, and Refounding Democracy“, Verlag: St. Martin’s Essentials, 304 Seiten, 27 Dollar, ISBN: 978-1250291899