Die Möglichkeit, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, scheint die Anzahl unbegleiteter Freitode nicht zu reduzieren. Im Gegenteil: Offenbar entscheiden sich mehr Menschen dafür, ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen, seit es die straffreie Möglichkeit des assistierten Suizids gibt.
Das zeigt eine noch unveröffentlichte Studie, die dem „Tagesspiegel“ vorliegt. Sabine Gleich, leitende Mitarbeiterin am Gesundheitsreferat der Stadt München, und Matthias Graw, Chef der Rechtsmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München, haben darin erstmals die Praxis des assistierten Suizids in München erforscht. Sie haben dafür assistierte und konventionelle Suizide miteinander verglichen und werteten Todesbescheinigungen, Obduktionsscheine und Akten der Staatsanwaltschaft aus, um die beiden Suizidarten zu vergleichen.
Das Statistische Bundesamt erfasst die beiden Arten der Selbsttötung nicht getrennt. Für das Jahr 2022 konnte das Amt einen Anstieg auf mehr als 10.000 Suizide im Jahr verzeichnen.
Sterbehilfe ist aktuell in Deutschland ungeregelt und damit derzeit eine Grauzone. 2020 kippte das Bundesverfassungsgericht Gesetz zum Verbot der „geschäftsmäßigen“ Suizidbeihilfe aus dem Jahr 2015. Jeder Mensch habe das Recht auf selbstbestimmtes Sterben und das schließe auch das Recht ein, sich das Leben zu nehmen und dabei die Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen, urteilten die Richter. Seitdem ringt die Politik um ein Gesetz zur Neuregelung des assistierten Suizids. Vergangenes Jahr waren zwei entsprechende Gesetzesentwürfe im Bundestag gescheitert.
Bei ihrer Untersuchung stellten Gleich und Graw fest, dass die beiden Gruppen in der Zusammensetzung der Personen nicht ähnlich waren. Wären sie das gewesen, hätte das darauf hindeuten können, dass sich die Suizide lediglich verschieben vom konventionellen zum assistierten Suizid. Doch die beiden Gruppen unterschieden sich „in nahezu allen untersuchten Parametern“, sagten die Macher der Studie.
Deshalb halten sie es für möglich, dass die Option der Sterbehilfe generell für einen Anstieg der Fälle sorgt. Die Zahlen zeigen, dass, zumindest in München, die Fälle von assistiertem Suizid kontinuierlich steigen: 2020 wurden nur fünf Fälle dokumentiert, ein Jahr später waren es 13, 2022 waren es 19 und 2023 insgesamt 40 Fälle.
Mehr Frauen als Männer nehmen Sterbehilfe in Anspruch
Sorge macht den Studienmachern folgendes: „Es hat sich klar herauskristallisiert, dass bei den assistierten Suiziden viele Menschen dabei sind, die sich aus Angst vor etwas Kommendem suizidieren, wo also die konkrete Situation noch gar nicht da ist“, sagt Rechtsmediziner Graw. Hier seien Aufklärung und Beratung wohl mangelhaft gewesen, sagt er. Das zeige, dass es viel mehr Gesprächs- und Beratungsangebote geben und Suizidprävention deutlich besser werden müsse.
Die Studienergebnisse zeigen, dass Personen, die durch assistierten Suizid starben, überwiegend weiblich und hochbetagt waren sowie an mehreren Krankheiten litten. Zu einem Viertel handelte es sich um Akademikerinnen und Akademiker. Sie waren fünfmal häufiger pflegebedürftig und lebten häufiger in einer Pflegeeinrichtung als diejenigen, die sich auf herkömmliche Art das Leben nahmen.
Den konventionellen Suizid hingegen begingen mehr Männer. Die machten zwei Drittel dieser Gruppe aus und waren durchschnittlich 57 Jahre alt.
Assistierter Suizid scheinbar oft spontan
Egal ob assistierter oder konventioneller Suizid: In beiden Gruppen litten die meisten Menschen an psychiatrischen und neurologischen Erkrankungen. Bei den assistierten Suiziden waren sie in mehr als der Hälfte der Fälle in der Todesbescheinigung vermerkt, bei konventionellen in einem Drittel der Fälle. Zehn Prozent der Menschen, die Sterbehilfe in Anspruch genommen hatten, hatten zuvor Selbsttötungsversuche hinter sich.
Das hat die Forscher schockiert. Denn: „Wir sind davon ausgegangen, dass assistierte Suizide geplant sind, dass die Menschen sich lange mit dem Thema beschäftigt haben, dass es keine Spontanentschlüsse gibt.“
Dass das scheinbar nicht immer der Fall ist, zeigen auch die Gutachten, die Ärzte erstellen müssen, wenn jemand Sterbehilfe in Anspruch nehmen möchte. In den Jahren von 2020 bis 2022 habe bei 17 der dokumentierten 37 Fällen ein einziger Arzt sämtliche Aufgaben übernommen: Das Gutachten zur Freiverantwortlichkeit erstellt, Suizidhilfe geleistet und die Todesbescheinigung ausgefüllt. Bei sechs der 17 Fälle lag eine gesicherte psychiatrische Diagnose vor. Ein Psychiater sei trotzdem nicht hinzugezogen worden. Allgemeinärzte, Internisten und ein Gynäkologe hätten sich die Begutachtung zugetraut. „Wenn alles in einer Hand liegt, gibt es keinerlei Kontrolle“, sagte Graw.
Zwischen der Erstellung des Gutachtens und der Suizidhilfe habe manchmal zudem nur ein einziger Tag gelegen. Durchschnittlich seien es siebe Tage gewesen. Das bedeute, in der Hälfte der Fälle seien zwischen Begutachtung und Vollzug weniger als sieben Tage vergangen. „Das ist eine sehr kurze Zeit für so eine schwerwiegende Entscheidung“, so Gleich, „da fehlt die Chance, seine Meinung zu ändern, vielleicht Alternativen zu berücksichtigen, die in einer unabhängigen Beratung aufgezeigt wurden.“ Das Fazit der Forscher: Es braucht eine Regulierung der Suizidassistenz.