Psychiater-Ehepaar: „Biblische Geschichten können einem die Augen öffnen“

Paraskevi Mavrogiorgou ist griechisch-orthodoxe Christin, ihr Ehemann Georg Juckel zweifelt an Gott. Die Psychiater wenden in der Therapie auch die Bibel an. Ein Gespräch über Krisen bei Hiob und heute – und das „fürchtet euch nicht“ der Bibel.
Von Nicolai Franz

PRO: Wie sind Sie darauf gekommen, die Bibel in der Behandlung von psychisch Kranken einzusetzen?

Mavrogiorgou: Wir haben als klinische Psychiater früher mit einem eher nur  naturwissenschaftlichen Ansatz gearbeitet, also psychisches Leiden rein ärztlich-medizinisch behandelt. Je mehr ich mit den Patienten direkt gearbeitet habe, habe ich aber gemerkt, dass das alleine nicht ausreicht.

Juckel: Wir stammen ja aus den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts, da hatte man die Hybris, seelische Erkrankungen binnen kürzester Zeit neurobiologisch verstehen und zum Beispiel nur mit Medikamenten heilen zu können. Meine Frau hatte immer auch wie selbstverständlich eine religiöse Ebene dabei. Ich selbst bin von einer sehr gläubigen Mutter geprägt worden, hatte mich aber vermutlich auch aus Gründen der Abgrenzung von ihrem protestantischen Glauben zunehmend damals entfernt. Aber natürlich haben wir auch immer psychotherapeutisch mit den Patienten gearbeitet. Auch dadurch  sind wir in den letzten Jahren dannmehr zu den existenziellen Themen gekommen: Angst vor dem Tod, Sinnerfüllung, Glück, Leiden, Trennung, Abschied. Wir haben in diesem Bereich recht viele Studien durchgeführt, weil er stark unterbeleuchtet ist. Und dann ist der Schritt zu religiösen Fragen natürlich ein kleiner. Wir haben also den Bogen von der Biologie hin zu religiösen Aspekten des psychisch kranken Menschen geschlagen. Gerade letzteres  ist in unserem Fachgebiet und in der öffentlichen Diskussion ausgeklammert, teilweise sogar tabuisiert.

Mavrogiorgou: Warum auch immer das so ist. Ein Problem unserer schnellen, Leistung -bezogenen Zeit ist, dass wir als Ärzte nicht mehr den Menschen sehen, sondern nur noch die Erkrankung.

Juckel: Die Behandlung von Krankheiten ist sehr mechanistisch geworden. Ärzte sprechen von der „Niereninsuffizienz auf Zimmer 7“, nicht mehr von der Person. Man arbeitet eine Checkliste ab. Auch z.B. bei Depressionen, auch wenn manches auf ihr nicht zum konkreten Patienten passt

Warum setzen Sie ausgerechnet die Bibel ein und nicht etwa Platon?

Juckel: Wir wollen die Leute abholen, wo sie weltanschaulich stehen. Natürlich ist die Bibel für uns rein kulturell und historisch ein Orientierungspunkt, weniger als der Koran oder der Talmud. Daher arbeiten wir eben explizit christlich orientiert. Die Bibel erzählt Geschichten, die vielschichtige Deutungsmöglichkeiten geben und die in einer sehr anschaulichen Direktheit die „großen“ Lebensfragen beantwortet. Zum Beispiel im Buch Kohelet, wenn es um die Vergeblichkeit und Vergänglichkeit des Lebens geht.

Mavrogiorgou: In der Bibel sind die Depressionen so eindrucksvoll geschildert, dass Patienten, die dieses Leiden gerade durchmachen, sich wiedererkennen. 

„Dass Hiob alle Zeichen einer Depression zeigt, ist fachlich unumstritten.“

Georg Juckel

Welche biblische Figur hatte denn eine Depression?

Juckel: Hiob, ganz klar.

Mavrogiorgou: Wenn Sie seine Leidensgeschichte lesen, das könnte man eins zu eins in ein Lehrbuch schreiben. 

Welche sind das? 

Mavrogiorgou: Der Zweifel an zunehmend allem, die körperlichen Symptome, die Antriebslosigkeit, die niedergedrückte Stimmung, die Hauterscheinungen. Oder das Gefühl, minderwertig zu sein, weil Gott sich verweigert, mit Hiob ins Gespräch zu kommen, und das Gefühl, er wird bestraft, weil er etwas falsch gemacht hat. Das ist das Vollbild einer schweren Depression.

Hiob könnte also bei Ihnen auch im Patientenstuhl sitzen. 

Juckel: Ja. Dass Hiob alle Zeichen einer Depression zeigt, ist fachlich unumstritten. Er durchläuft verschiedene Phasen. Am Anfang der Gleichmut: „Gott hat’s gegeben, Gott hat’s genommen.“ Dann fühlt er sich vollkommen ausgeschlossen und stürzt noch tiefer in die Depression, gefolgt von der Phase der Anklage: Warum ist das gerade mir, der so gottesfürchtig ist, angetan worden? Schließlich folgt Hiobs Glaubensgewissheit: Durch Gottes Anwesenheit und seine Unterstützung in jeder Hinsicht kann ich durch alles hindurchgehen und wieder gesund werden.

Leiden heute mehr Depressionen als noch vor ein paar Jahren? Wie steht es um unsere Resilienz? 

Juckel: Das gesellschaftliche Barometer hat sich verstellt. Wir sind in der Klinik eine Akut-Psychiatrie. Wir haben auch mit Patienten in der Notaufnahme zu tun, die haben bloß Liebeskummer, leiden wegen Trennung und Abschied. Das sind ganz normale Lebensprobleme, die in der Familie, bei Freunden oder in der Seelsorge der Gemeinde eigentlich gut aufgehoben wären. Mittlerweile wird jedoch unglaublich viel pathologisiert, weil Menschen offenbar aus ihrer Selbstwertproblematik heraus ein Label für ihre Leiden brauchen. Nur dann zählt es und sie. Zum Beispiel „Burnout“ oder sogar ADHS und weitere“. Bis zu Corona ist die Zahl der Depressionen eher stabil geblieben. Man geht davon aus, dass es nur zu einem relativen Anstieg von Depressionen kam, weil Leute, die früher „Rücken“ oder „Rheuma“ hatten, in Wahrheit eine Depression hatten, die aber nicht so genannt wurde.

Mavrogiorgou: Der Anteil der schweren Depressionen hat aber wahrscheinlich nicht zugenommen. Allerdings hat die Zahl der leichten Depressionen im Sinne von Reaktionen und Anpassungsschwierigkeiten auf auch gesellschaftlichen, globalen Veränderungen vermutlich eher zugenommen. Dass mit der Corona-Pandemie die Belastungen angestiegen sind, liegt ja auf der Hand. Wir mussten nicht nur diese mit Lockdowninklusive der Kollateralschäden durchmachen, sondern auch mittlerweile zwei schwerwiegende Kriege, die die ganze Menschheit direkt oder indirekt betreffen. Die Generation, die nun mit Corona und danach am Wachsen ist, hat die Grundsicherheit unserer Generation kaum. Darunter könnte deren Widerstandsfähigkeit auch als Resilienz in aller Munde leiden.

Hat das auch mit der zunehmenden Individualisierung zu tun?

Juckel: Die tragenden Fundamente des menschlichen Lebens, zum Beispiel der Glaube, bröckeln in den jüngeren Generationen. Es gibt eine große Vereinzelung, weniger Solidarität und Verbundenheit mit anderen in einem sozialen Gefüge. Wir sind als Studenten in 1970er und 1980er Jahren automatisch ständig draußen bei und mit Anderen in irgendwelchen AGs und Demos gewesen. Gerade junge Menschen heute sitzen einsam in ihrer mit Elektronik vollgestopften „Tonne“ und sind angesichts von Pandemie, Krieg und Klimakatastrophe überfordert. Dazu kommen die persönlichen Katastrophen, nämlich allzuoft die Familien. Man fällt fast vom Stuhl, wenn man hört, aus welch furchttbaren und destruktiven Familien viele Heranwachsende kommen.

„Auch das ist ein Zeichen der kranken Gesellschaft: Man stabilisiert sein Ich, indem man sich das Leid anderer anschaut.“

Paraskewi Mavrogiorgou

Mavrogiorgou: Das Problem sind nicht die Fakten an sich – Pandemie oder Krieg – sondern was damit vermittelt wird. Nämlich, dass ich mein Vertrauen in meine Mitmenschen verliere. Es kommt zum Beispiel irgendein Virus, und dieses Virus führt uns vor Augen, dass wir unfähig sind, mit solchen Krisen umzugehen. Statt uns mit den Anderen zusammenzuschließen, haben wir Angst vor ihnen. Kriege sind schon schlimm genug. Aber beim einzelnen Menschen kommt das Resümee an: Wir sind nicht in der Lage Konflikte gewaltfrei zu lösen. Man verliert seinen Glauben an sein Menschsein und seine Fähigkeit, wirksam Probleme zu lösen. Dieses Gefühl empfinden psychisch Kranke besonders stark. 

Auch das, was wir sehen, macht etwas mit uns. Kriege und sadistische Gewalt gab es schon immer, aber heute werden diese Taten gefilmt und laufen über unsere Smartphones. Wie sehr schadet uns das?

Mavrogiorgou: Ich persönlich schaue mir das nicht an, andere aber schon. Manche betrachten das Leid Anderer, um sich selber aufzuwerten. Auch das ist ein Zeichen der kranken Gesellschaft: Man stabilisiert sein Ich, indem man sich das Leid anderer anschaut. Unsere Gesellschaft funktioniert ja durch Auf- und Abwertung.

Juckel: Die individuelle Schadenfreude dient im Sinne eines narzisstischen Mechanismus dazu, dass ich mich dadurch stabilisieren und eine Form von Ruhe empfinde, indem ich mich über das Leid Anderer erhebe. In unserer visuellen Welt sehe ich ja immer nur das Leiden der Anderen, von dem ich mich auf diese Weise dann abgrenzen kann.

Georg Juckel/Paraskevi Mavrogiorgou:

„Wie die Seele wieder Frieden findet. Warum die alten Geschichten der Bibel uns heute Halt geben.“

Bonifatius, 224 Seiten, 20,00 Euro

Die meisten Menschen stoßen wohl eher zufällig auf solche Bilder.

Juckel: Ja, diese Bilder überfluten die globale Gesellschaft. Die Menschen reagieren mit Neugierde, Abschottung oder Gleichgültigkeit darauf. Junge Leute wachsen mit einer riesigen Flut von Gewaltbildern auf, inklusive der sexuellen Gewalt und mit Pornografie. Darf ich als agnostischer Mensch einen Bogen zu Weihnachten schlagen? 

Nur zu. 

Juckel: Die Friedensbotschaft der Weihnachtsgeschichte wirkt zunächst etwas antiquiert, aber man muss sie ins Hier und Jetzt übersetzen. Man muss immer auch im Feind den Mitmenschen sehen und nicht nur sich allein. Wir alle sind krumm und schief und nicht perfekt. Wenn wir das wirklich gemeinsam so spüren würden, dann ist diese Schwäche unsere Stärke. An Heiligabend in Verdun vor mehr als 100 Jahren haben die Waffen der verfeindeten Soldaten für einen Abend geschwiegen. Das war sehr wirkmächtig. Krieg fängt aber im Kleinen an. Wir erleben Gewalt und Aggression in Familien und auf unseren Straßen. Die Bibel kann klare Rahmenbedingungen und Orientierung bieten – wenn man sich für sie öffnet.

Die Hamas hat mit voller Absicht sogar Babys getötet. Das gibt es auch in der Weihnachtsgeschichte, als Herodes aus Angst vor einem neuen König alle männlichen Neugeborenen töten ließ. Was macht Weihnachten trotzdem zur Hoffnungsgeschichte für psychisch Angeschlagene?

Juckel: Sie setzt eine Möglichkeitsdimension gegen den Schrecken, den wir erfahren. Nennen wir diese Dimension mal Gott. Sie wird mit Jesu Geburt Mensch, der einsam und ausgegrenzt sein, körperlich und seelisch leiden kann, aber auch Maßstäbe für ein künftiges gutes Leben setzt. Wenn man sich dieser Möglichkeit öffnet, hat das ganz viele Folgen. Das ist mir auch erst vor kurzem aufgegangen. Das wehrlose Kind, das von Herodes bedroht wird, über die Bergpredigt bis hin zum Kreuz: Überall erleben wir Verletzlichkeit, Verwundbarkeit und Schwäche. Die Botschaft ist: Du musst nicht stark sein, nicht reich oder mächtig, um in dieser Welt etwas zu erreichen. Das wollen wir auch psychotherapeutisch erreichen: Zeige deine Wunden, akzeptiere sie, denn sie sind die Grundlage der Besserung.

Mavrogiorgou: Für mich ist es ein stückweit einfacher und konkreter. Ich entdecke in Weihnachten Menschenfreundlichkeit. Wenn ich mit mir liebevoll umgehe, kann ich auch anderen so begegnen. Das ist so banal, dass man sich manchmal schämt, das zu formulieren. Aber wenn ich menschenfreundlich durch den Tag gehe, dann spüre ich keine Lust, einem anderen eine Backpfeife zu geben, sondern das Gegenteil. Dem Menschen, dem ich morgens auf seinem Weg zur Behindertenwerkstatt in Bochum begegne, schenke ich ein Lächeln. Er schafft es nicht, mein Lächeln zu erwidern. Aber ich merke, wie gut es mir tut und hoffe, diesen mir Unbekannten auch. Ich lese in der Bibel und werderuhiger , gerade wenn ich durch Probleme herausgefordert bin. Alleine weil ich merke: Ich bin nicht der Mittelpunkt der Erde und die einzige, die diese Probleme hat.

Wenn ich bei Ihnen in der Therapie sitzen würde, wie würden Sie die Weihnachtsgeschichte dann einsetzen, um mir zu helfen?

Juckel: Das Kind in der Krippe ist hilflos. Menschen in psychischen Krisen fühlen sich oft ebenfalls hilflos und schwach. Sie sind ganz nach unten gegangen. Und sie müssen lernen, dass genau das ihre besondere Fähigkeit und Kraft darstellt. Das ist ja das Paradoxe der gesamten Jesusgeschichte, dass die Schwäche eine Stärke und sogar die Lösung ist. Das zieht sich durch alle Evangelien. 

Jesus sagt: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.

Juckel: Und das kann Menschen eine Perspektive geben: Ich kann mitmenschlich sein, ich muss meine Ellenbogen nicht ausfahren, ich kann anderen Menschen helfen und sie unterstützen. Und nochmal zu Weihnachten: mit Jesus ist explizit die Möglichkeit bedingungsloser Liebe, von Versöhnung und friedlichem Zusammenleben geboren worden. Wir müssen sie „nur noch“ ergreifen.

Mavrogiorgou: Für mich als religiöser Mensch wird in der Person von Jesus die Erlösung geboren. Als kleines, unschuldiges Wesen – was aber mit einer außergewöhnlichen Stärke kommt. Sie wissen, was kleine Babys vermitteln können, ohne zu sprechen. Sie brauchen nur ein ganz feines Lachen, um einem das Herz zu öffnen. Die Weihnachtsgeschichte ist phänomenal und bietet viele Anknüpfungspunkte für uns. Zum Beispiel: Das kleine Kind ist unschuldig. Es kann dir nicht gefährlich werden.

Was bedeutet das?

Juckel: Gott liegt als Mensch in der Krippe. Das ist überraschend und bestürzend, man könnte sich fürchten davor, aber genau das sollte für uns  Zuversicht und Freudebedeuten. Man kann das religiös verstehen, aber auch nüchtern psychotherapeutisch: Wenn man sich selbst erkannt hat, in seinen Stärken und Schwächen, diese beginnt in ein Gleichgewicht zu bringen, dann ist das im Kern die Lösung für sein eigenes Leben und seiner Probleme. 

Als Jesus geboren wurde, hoffen die Menschen auf einen Messias, der das Volk Israel befreit. Gott schickt aber keinen Superhelden, sondern er erwählt die Schwachen. Ein Baby, eine einfache junge Frau, Hirten, einen dreckigen Stall. 

Juckel: Und das ist auch realistisch. Der Messias ist nicht der Übervater, dem wir alles zuschreiben und der alles für uns regelt, sondern wir sind es selbst, es geht um unsere eigene Kraft Das zieht sich von der Krippe bis zur Bergpredigt. Dass es kein ewiges Kräftemessen braucht. Sondern die Lehre: Versucht, euch in den anderen hineinzuversetzen und findet eine friedliche Lösung miteinander. Das ist für uns als Psychiater und Psychotherapeutendie revolutionäre Botschaft.

Mavrogiorgou: Unsere Aufgabe ist nicht, das Problem des Patienten zu lösen, sondern ihn dabei zu unterstützen und Lösungswege gemeinsam zu erarbeiten. Ähnlich sehe ich das auch beim Glauben: Natürlich wäre es toll, wenn Gott uns ohne Probleme geschaffen hätte …

Juckel: … was Freud übrigens immer als kindliche Allmachtsfantasie der Menschen kritisiert hat. Die Hybris eines grenzenlosen Narzissmus kann nicht die Lösung sein, sondern weist auf die Schädigung unseres Selbst hin.

Mavrogiorgou: Was wäre das für ein Leben? Langweilig. Gott zeigt uns Möglichkeiten, aber er überlässt uns die Entscheidung, welchen Weg wir nehmen. Für mich ist das ein Segen. In der Kindererziehung ist es auch so. Natürlich würden sich unsere Kinder von uns wünschen, dass wir ihre Probleme lösen. Aber wir tun ihnen keinen Gefallen damit. Ich sage unseren Söhnen: Mach du erstmal selber. Wenn du Fragen hast, komm gerne zu uns, und wir helfen dir wieder auf, wenn du hingefallen bist.

Ist das „Fürchtet euch nicht“ des Engels ein Anhaltspunkt für Sie?

Juckel: „Fürchtet euch nicht“ kann man verstehen als „habt keine Angst“. Ein solches „Entängstigen“ machen wir in der Psychotherapie ständig. Maria, Josef im Traum und die Hirten auf dem Feld hören vom Engel, dass sie sich nicht fürchten sollen. Er sagt damit: Jetzt kommt etwas sehr Ungewöhnliches, aber ihr werdet sehen, es wird euch am Ende stärken.

Mavrogiorgou: In meiner griechischen Bibel – ich bin Griechin – schwingt übrigens nicht Angst mit, sondern es heißt eher „seid nicht überrascht oder erschrocken“. Das ist doch positiver. In Griechenland wird Glaube anders als in Deutschland nicht so sehr mit dem Gefühl der Angst assoziiert. Glaube sollte ja eigentlich eher die Angst minimieren. 

Juckel: Die Frage ist eben: Wo geht es hin? Und die Botschaft, die folgt, ist eine positive: „Euch ist heute der Heiland geboren“. Ihr braucht keine Angst vor der Zukunft zu haben, sofern ihr Euch anvertraut und entsprechend lebt

Mavrogiorgou: Für mich bedeutet das, dass ich niemals alleine bin, weil Gott immer bei mir ist. Auch bei allen Problemen und Belastungen. 

Juckel: Die Botschaft der Engel nimmt eine berechtigte Emotion der Menschen in ihrer feindlichen Umwelt auf, sie gibt aber mit der von Freude und Hoffnung eine starke Orientierung für die Zukunft – und diese Zukunft ist eine „dreifaltige“ Person. Das ist etwas völlig anderes als bei Platon, im Koran, Hinduismus oder Yoga. Jesus ist ein personaler Gott. Es geht um Beziehung, um Dialog. So wie bei uns in der Therapie.

„Für mich als religiösen Menschen wird in der Person von Jesus die Erlösung geboren.“

Paraskevi Mavrogiorgou

Der neugeborene Heiland will die Menschen aus der Macht der Sünde befreien und sie mit Gott versöhnen. Sünde und Versöhnung: Spielt das bei Ihnen in der Therapie eine Rolle?

Mavrogiorgou: Die Sünde spielt für uns als Therapeuten kaum eine Rolle, wohl aber aus der Sicht der Patienten. Ich sage dann meistens: Ich bin keine Richterin und entscheide nicht über Ihre Schuld, weil ich psychische Erkrankungen nicht als Strafe für irgendeine Tat halte. Der zweite Punkt ist wichtiger: Vergebung und Versöhnung – und das ist ein sehr komplexer Prozess, der Zeit braucht. Dazu gehört auch, dass ich mir selber vergeben kann, um meinem Gegenüber vergeben zu können.

Braucht man Gott dazu?

Juckel: In diesem Prozess kann etwas Übergeordnetes sichtbar werden, was wir Gott nennen können. Eine Ebene, auf die ich mich, aber auch mein Gegenüber beziehen kann, um ganz spezifische seelische Probleme anzusprechen und auch ins Reine zu kommen. Diese Dimension bedeutet eine tiefe seelische Energie, mit deren Hilfe man auch Vergebung und Versöhnung herbeiführen kann. Diese göttliche Dimension muss man aber auch wirklich glauben, um sie wirksam werden zu lassen. Wer wenig Glauben hat, kann sie nur schlecht benennen und fühlen, für Gläubige ist das einfacher.

Mavrogiorgou: Nein, das sehe ich anders. Für mich ist Gott immer dabei, aber nur deswegen wird Versöhnung für mich nicht leichter. Der Prozess von Vergebung bis hin zur Versöhnung ist nicht einfacher, nur weil ich Gott bei mir habe.

Juckel: Die meisten Menschen spüren etwas Übergeordnetes. Für einen gläubigen Menschen ist dieses Übergeordnete aber klarer und besser zu fassen.

Wenn Sie beide streiten, wenden Sie dann eigentlich auch Psychologie an?

Mavrogiorgou: Wir holen natürlich den Hammer raus. Scherz.

Juckel: Ich würde sagen, wir führen produktive Auseinandersetzungen. Wir stammen aus zwei unterschiedlichen Kulturkreisen, sie aus der griechisch-orthodoxen Welt, ich als nüchterner Protestant aus West-Berlin. Das sind schon zwei Welten.

Mavrogiorgou: Unsere Auseinandersetzungen machen uns aber nicht schwächer, weil uns beide Liebe verbindet. Ich rede natürlich manchmal sehr südländisch-emotional, das darf man aber nicht als Aggression missverstehen. Mein Mann musste das auch lernen.

Sagen Sie in der Therapie: „Wissen Sie, wem es auch so ging? Hiob. Wollen wir uns mal seine Geschichte anschauen?

Juckel: Viele der biblischen Geschichten können einem wirklich die Augen öffnen. Wir arbeiten explizit christlich und gerne mit der Bibel, weil sie so reichhaltig ist. Damit müssen wir uns auch vor den Fachkollegen nicht verstecken. Manche Patienten fragen: Kann es sein, dass ich doch noch in den Himmel komme? Habe ich Schuld auf mich geladen? Habe ich nicht total versagt? Bin ich von Gott und meiner Frau verflucht? Natürlich sprechen wir dann auch über seinen Glauben.

Mavrogiorgou: Wir wenden einen multidimensionalen Ansatz an: Wir müssen wissen, welchen Menschen wir vor uns haben, müssen sein Krankheitsbild und seine Geschichte kennen. Es ist nicht nur die eine Sache, die dem Patienten hilft – Pille, Therapie, Yoga-Matte oder Gebet – sondern meist eine Kombination. Es gibt eine Bewegung, die psychiatrische Behandlung komplett ablehnt. Da hört bei mir die Toleranz auf, wenn man Menschen in einer schweren psychischen Erkrankung wie Depression oder Schizophrenie alleine lässt. Das ist verantwortungslos.

„Das ist etwas völlig anderes als bei Platon, im Koran, Hinduismus oder Yoga. Jesus ist ein personaler Gott.“

Georg Juckel

Haben Sie ein Beispiel dafür, wie Sie die Bibel in der Therapie eingesetzt haben?

Juckel: Wir hatten einen Patienten stationär aufgenommen, der eine schwere Depression hatte. Ein ehemaliger Bergwerksdirektor, 90 Jahre alt, der den Krieg noch bewusst erlebt hat. Der Ukrainekrieg hat seine Erinnerungen der Bombennächte in Bochum wieder hervorgeholt. Er sah den Atomkrieg vor sich, konnte nicht schlafen und hatte große Angst, auch um seine Familie. Der Kernpunkt bei ihm war die Frage: Was heißt eigentlich „Liebe deine Feinde“? Darüber kam er ins Nachdenken. Er war durchaus christlich ansprechbar und wir schauten uns gemeinsam die Bergpredigt an. Das hat etwas in ihm bewegt. Später ging er sogar in Schulen erklärte Schülern anhand seiner eigenen Erfahrung, dass Krieg einfach nur schlimm ist.

Mavrogiorgou: Natürlich kann man eine Therapie nicht in einer Akutphase beginnen, sondern muss zunächst auf Medikamente zurückgreifen, damit der Patient überhaupt erst in der Lage ist, solche Gespräche zu führen. Dass jemand mit 90 Jahren aus einer persönlichen Kriegserfahrung und Schuldgefühlen heraus durch die Beschäftigung mit der Bibel zu so einer Verhaltensänderung kommt, ist schlicht phänomenal.

Vielen Dank für das Gespräch.

Der Artikel ist in gekürzter Form erstmals in der Ausgabe 6/2023 des Christlichen Medienmagazins PRO erschienen. Das Heft können Sie hier kostenlos bestellen.

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