Herr Beckmann, wenn Sie das Leben Ihrer Mutter betrachten: An welchen Stellen bekommen Sie eine Gänsehaut?
Es ist etwas Grundsätzliches, das mich am meisten bewegt. Mir ist bei der Recherche noch einmal deutlich geworden, was für ein außergewöhnlicher Mensch meine Mutter war – und das ohne große formelle Bildung. Aenne hat mit 13 Jahren die Schule verlassen. Als Mädchen auf dem Land ging man dann irgendwo beim Bauern in Stellung. Eine Berufsausbildung war für sie nicht vorgesehen. Sie wollte aber nicht den erstbesten Mann in ihrem Dorf heiraten, sondern ihr eigenes Leben gestalten. Meine Mutter besaß den Mut und die Klugheit, um diesen Entschluss zu treffen. Auch nachdem ihre vier Brüder im Zweiten Weltkrieg umgekommen sind. Sie hat sich als junge Frau 100 Kilometer von ihrer Heimat eine Zukunft aufgebaut und ihre große Liebe gefunden. Das war für die damalige Zeit und nach dem Verlust der Brüder im Krieg sehr ungewöhnlich.
Gab es auch Ereignisse, die Ihre Mutter mit Ihnen als Sohn nicht besprechen wollte?
Das Schöne war, dass meine Mutter von sich aus über die Kriegszeit, aber auch die Jahre davor geredet hat. In vielen anderen Familien ihrer Generation wurde dazu geschwiegen. Meine Mutter hat sich durch die Erzählungen selbst Erinnerungen gegeben und sie am Leben gehalten. So hatte ich immer schon ein Bild von meinen Onkeln und dem Leben auf dem Dorf. Das ist ihr großer Verdienst.
Konnte Ihre Mutter eigentlich den Verlust ihrer Brüder betrauern?
Der Tod gehörte damals anders zum Leben als heute. Die Mutter meiner Mutter ist im Wochenbett gestorben. Ihren Vater hat sie im Alter von vier Jahren verloren, er starb an den Folgen des Ersten Weltkriegs. Aenne ist bei den Stiefeltern aufgewachsen. Als sie erfahren hat, dass ihr erster Bruder im Krieg gefallen ist, haben die Geschwister darüber geschrieben. Man hat versucht, sich aus der Ferne beizustehen. Für die Ergebenheit ans Schicksal war die Kirche zuständig.
Die Katholische Kirche spielte eine wichtige Rolle im Dorfleben …
Wellingholzhausen war ein sehr gottesfürchtiges Dorf. Das Wort des Pfarrers von der Kanzel war Gesetz und die Nazis hatten zunächst große Schwierigkeiten, die Ortschaft für sich zu gewinnen. Die Menschen haben ihr Kreuz da gemacht, wo aus ihrer Sicht der christliche Glaube zu Hause war, nämlich bei der Zentrumspartei. Nicht nur Sonntags war die Kirche voll, die Menschen hatten eine tiefe Verbindung zu ihrem Herrgott und der Rosenkranz gehörte in fast jede Hosentasche.
Welche Auswirkungen hatte diese Prägung auf den Alltag der Mutter?
Meine Mutter ist mit 98 Jahren gestorben. Sie war sich bis zum Ende sicher, dass Gott ihr die Hand reichen wird, wenn sie geht. Um diese Zuversicht haben wir sie immer beneidet. Aenne hatte eine Unverlierbarkeit im Guten – und das, obwohl sie so viel verloren hatte. Ihre Stabilität war ganz klar im Glauben verortet. Wir leben heute in einer individualisierten Gesellschaft und jeder bemüht sich, sein eigenes Leben zu stemmen. Die Gottesfürchtigkeit dieser Generation fehlt uns heute. Wir sind nach oben hin ein wenig obdachlos.
Welche Rolle hat dieses feste Fundament in der Erziehung Ihrer Mutter gespielt?
Meine zwei Brüder und ich waren als Ministranten in der Katholischen Kirche aktiv. Die Kirche war in meiner Kindheit sehr präsent, alles Soziale war mit der Kirche verbunden, dort waren Gemeinschaft und Treffpunkt. Vor dem Essen und beim Zubettgehen wurde natürlich gebetet. Das hat sich dann später bei uns zu Hause verändert.
Welches Bild von Gott oder vom christlichen Glauben hat sie vermittelt?
Meine Mutter hatte eine innige Verbundenheit zu ihrem Herrgott. Aber ich muss sagen, sie konnte auch fluchen und schimpfen über das, was Gott ihr angetan hat. Unsere Weihnachtsfeste waren nicht immer nur fröhlich. An diesen Tagen holte der Verlust meine Mutter ein, und es flossen auch Tränen. Es gab eine tiefe Seelenverbindung zu ihren Brüdern, aber auch zu ihren Eltern, die sie bewusst eigentlich nie kennengelernt hat.
Welchen Stellenwert haben Kirche und Glaube heute in Ihrem Leben?
Es gibt bei mir den Glauben an eine universelle Kraft und Energie, die größer ist als das, was wir hier auf der Erde veranstalten. Ich bin noch Mitglied der Katholischen Kirche, aber mit der Institution habe ich zunehmend Probleme. Ich habe gehofft, dass Papst Franziskus, den ich gerne den Sozialarbeiter Argentiniens nenne, im Vatikan einmal so richtig aufräumt. Das ist leider nicht passiert. Die Debatte um den Missbrauch hat natürlich mein Verhältnis zur Kirche auch sehr getrübt.
Was bedeutet Ihnen die Bibel für Ihren Glauben?
Ich würde gerne noch einmal neu darin lesen und die Bibel zurück in mein Leben holen. Bob Dylan hat vor Jahren eine sehr christliche Platte gemacht. Als ich die Texte studiert habe, kam mir der Gedanke, mich wieder mit der Bibel zu beschäftigen – zu schauen, welche Geschichten ich daraus für mich bergen kann. Wir haben für mein letztes Album einen Text von Dylan übersetzt. Bei uns heißt der Song „Wenn es vollbracht ist, dann bin ich bei dir.“
Die Rolle beider großer Kirchen im Zweiten Weltkrieg wird in der Wissenschaft kontrovers diskutiert. Was haben Sie da für eine Erkenntnis für sich gewonnen?
Mich hat immer schon frustriert, dass sich die protestantische Kirche bereits früh in den Schoss der Nazis gelegt hatte. Bei der katholischen Kirche war mir das gar nicht so klar. Die Familie meiner Mutter war eine einfache Schuster-Familie in einem Dorf am Rande des Teutoburger Waldes. Als ich mit den Menschen vor Ort und lokalen Historikern gesprochen habe, wurde mir die starke soziale Bindungskraft der Kirche bewusst. Adolf Hitler wusste sehr genau, dass er die Kirchen für sich gewinnen musste, um seine Macht zu festigen. Einige Bischöfe und Kardinäle haben sich davon verführen lassen, weil sie auch dazu gehören wollten. Es ist tragisch und ernüchternd, dass die Katholische Kirche ihre Chance des Widerstands so wenig genutzt hat, obwohl Hitler und seine Vasallen auch in den katholischen Gemeinden Einrichtungen geschlossen und Andersdenkende getötet haben. Es hätte über den Widerstand des Bischofs von Münster Clemens van Galen hinaus noch einer Menge mehr Mut und Menschlichkeit bedurft.
In den Dörfern hatte das Wort von der Kanzel Gewicht. Wurde es zu wenig hinterfragt?
Es gab für die Menschen damals wenig Möglichkeiten, sich Informationen zu beschaffen und sich zu bilden. Das verstärkt die Verantwortung der Kirche noch einmal. Man kann an der Geschichte des Dorfes gut ablesen, dass die Menschen lange die Partei gewählt haben, wo sie den christlichen Glauben verortet haben. Deswegen hat es einige Zeit gedauert, bis die NSDAP Fuß gefasst hat. Deren Anhänger haben sich dazu durch die Kneipen geprügelt und den Schulleiter gewechselt. In der Schule wurde dann die neue Generation Volkssturm heranerzogen. Der Einfluss der Katholischen Kirche und ihre Rolle als sozialer Mittelpunkt sank.
Welche Lehren können wir daraus für den Umgang mit politischem Extremen ziehen?
In der Weimarer Republik war die wirtschaftliche Not irgendwann so groß, dass die Menschen um ihre Existenz fürchteten. Auch heute steigt der finanzielle Druck für viele – das führt zu Enttäuschung und Frust. Und es verführt Menschen dazu, aus Protest ein Kreuz irgendwo zu machen, wo es nicht hingehört. Bei 22 Prozent AfD-Sympathisanten gibt es Protest-Wähler und solche, die tatsächlich völkisches Gedankengut teilen. Wichtig ist, dass die Denkzettel-Wähler wieder zurückkommen und nicht zu Stammwählern werden.
In der Bibel fordert Jesus die Menschen auf, Frieden zu stiften. Was zeichnet einen Friedensstifter aus?
Der FDP-Politiker Gerhart Baum hat einmal die Frage gestellt, ob eine Friedensdemo auf dem Trafalgar Square Hitler verjagt hätte. Auch ein ehemaliges Hippie-Kid wie ich fällt angesichts der konkreten Bedrohung auf den Boden der Tatsachen zurück. Je länger der Krieg in der Ukraine dauert, desto mehr verroht er. Selbst wenn es Frieden gibt, wissen wir noch nicht, wie und wann sich die Situation zwischen den Ländern und der Bevölkerung entspannen kann. In Russland spürt man zudem kein wirkliches Aufbegehren gegen den Krieg. Die Menschen trauen sich nicht – vielleicht sind ihnen in diesem riesengroßen Land auch Demokratie und Freiheit suspekt. Viele haben noch nicht erlebt, was es bedeutet, frei zu denken und selbstverantwortlich zu leben. In Deutschland haben wir jetzt 78 Jahre Frieden – ein großes Glück, für das wir dankbar sein müssen.
Die beiden großen Kirchen verlieren immer mehr Mitglieder. Welche Rolle sollen sie in der Gesellschaft spielen?
Die Kirche muss runter von ihrem hohen Ross. Es hat viel zu lange gedauert hat, bis man bereit war, den Missbrauch aufzuarbeiten und sich kritischen Fragen zu stellen. Dass es noch nicht einmal Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau gibt, wäre eigentlich Grund zum sofortigen Austritt. Das Andere ist das Erscheinungsbild des Vatikan. Ich hatte mir von Papst Franziskus erhofft, dass er die mafiösen Strukturen auflöst. Kirche muss sich wieder als Sozialarbeiter in den Gemeinden verstehen und sich von jedem Pomp und jeder übermäßigen Selbstdarstellung trennen.
Was war für Sie persönlich die wichtigste Erkenntnis im Zuge ihrer Recherchen?
Mir sind zwei Dinge bewusst geworden. Zum einen habe ich meine Onkel endlich kennengelernt – als vier völlig unterschiedliche Persönlichkeiten. Zum anderen meine Mutter, die es trotz der großen Verluste geschafft hat, ihr Herz nicht zynisch werden zu lassen. Sie hatte diese Bescheidenheit im Glück. Auf die Frage, wie es ihr geht, hat sie oft geantwortet: „Ich bin zufrieden.“ Eine große Gabe.
Braucht es mehr resistente Menschen in unserer Gesellschaft?
Es scheint zum Modebegriff geworden zu sein. Aber es sagt ja nur, wie widerständig Menschen sein können. Meine Mutter ist in dem Fall ein positives Beispiel, weil sie trotz ihrer Niederlagen und Verluste den Blick für das Gute nicht verloren hat. Sonst wäre die Familie, die sie am Ende aufgebaut hat, nicht möglich gewesen.
Vielen Dank für das Gespräch.
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