Vieles liegt noch im Verborgenen in der Causa Annette Kurschus, aber eines ist klar: Ihr Rücktritt war richtig. Dass sie ihre Ämter als Präses der westfälischen Landeskirche und als Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) niedergelegt hat, zeugt von Größe.
Paradoxerweise muss man das gerade deswegen so konstatieren, weil Kurschus kein eigenes Fehlverhalten einsieht. „Mit Gott und mir selbst bin ich im Reinen“, sagte sie am Montag vor Journalisten in Bielefeld. Von vielen Seiten hatte es Schelte gegeben für ihren Umgang mit einem Missbrauchsfall im Kirchenkreis Siegen-Wittgenstein, wo die bis gestern ranghöchste deutsche Protestantin Ende der 1990er Jahre einfache Gemeindepfarrerin war.
Die „Siegener Zeitung“ hatte zuerst über den Fall berichtet. Demnach habe es vor mehr als 20 Jahren ein Gespräch im Garten der Pfarrerin gegeben. Teilnehmer seien eine weitere Pfarrerin und drei Männer gewesen, von denen einer sich als Missbrauchsbetroffener zu erkennen gegeben hatte. Es sei zu übergriffigem sexuellen Verhalten des Mitarbeiters des Kirchenkreises gekommen, hätten die Männer berichtet – und das im Rahmen eines „Lehrer-Schüler-Verhältnisses“.
Kurschus erinnert sich nach eigenen Angaben anders an den Fall. „Ich wünschte, ich wäre vor 25 Jahren bereits so aufmerksam, geschult und sensibel für Verhaltensmuster gewesen, die mich heute alarmieren würden. Ich habe allein die Homosexualität und die eheliche Untreue des Beschuldigten wahrgenommen“, sagte sie am Montag.
Erst durch eine anonyme Strafanzeige habe sie von dem Vorwurf der sexualisierten Gewalt erfahren. Dem entgegen stehen eidesstattliche Erklärungen zweier Teilnehmer des Gesprächs im Garten, die der Siegener Zeitung nach eigenen Angaben vorliegen. Es sei bei dem Gespräch um konkrete sexuelle Verfehlungen gegangen.
So oder so: Offenbar hat Kurschus die Tragweite des Falles unterschätzt. Dass irgendwann sie im Zentrum dieses Missbrauchsfalls stehen könnte, hat sie augenscheinlich nicht erwartet. Die EKD-Gremien erfuhren dem Vernehmen nach offiziell erst spät von den Vorwürfen. Wie immer in solchen Fällen wurde Kritik an der „Salamitaktik“ der Ratsvorsitzenden laut, bei der kommunikativ eine Scheibe nach der anderen abgeschnitten wird.
Schweigen macht alles nur noch schlimmer
Statt rasch und transparent für Aufklärung zu sorgen, berief sich Kurschus auf die Persönlichkeitsrechte des Betroffenen. Eine besonders pikante Salamischeibe: Kurschus ist mit der Familie des Beschuldigten seit langem befreundet.
Wohlwollend muss man Kurschus zugestehen, dass es ihr womöglich wirklich um die Persönlichkeitsrechte des Mannes geht, dem sexuelle Übergriffe vorgeworfen werden. Allerdings: Das Thema sexueller Missbrauch ist ein extrem vermintes Gelände. Häufig bleiben für die Aufklärer und Verantwortlichen nur schlechte Handlungsoptionen.
Doch eine der wichtigsten Regeln der Krisenkommunikation ist: Schweigen macht alles nur noch schlimmer – weil ansonsten der Eindruck entstehen kann, dass Täter geschützt werden sollen. Daher muss die ehemalige Ratsvorsitzende sich auch nicht wundern, dass sie seit Tagen in der öffentlichen Kritik steht.
Kurschus zeigte bei ihrer Rücktrittserklärung allerdings keine Selbstkritik, was ihre Kommunikation angeht. Das wurde vor allem an einer Stelle deutlich, an der die Theologin von ihrem vorbereiteten Manuskript abwich. „Sie wissen: Ich habe die Aufgaben in beiden Ämtern mit Leidenschaft und mit Herzblut wahrgenommen“, hob Kurschus an, um dann mit teils versagender Stimme hinzuzufügen: „In einer Redlichkeit, die ich mir auch hier und jetzt von niemanden, von niemandem absprechen lasse. Dafür habe ich viel eingesetzt.“ Für diese Sätze erntete sie viel Applaus.
Für Kurschus und ihre Unterstützer muss der Rücktritt eine gehörige Portion Ungerechtigkeit beinhalten. Das mag sogar teilweise stimmen. Dass sie trotz dieser empfundenen Ungerechtigkeit einen Schlussstrich gezogen hat, spricht für sie. Die Alternative wäre gewesen, dass im schnellen Takt immer neue Informationen zutage befördert worden wären. „Schon wieder neue Vorwürfe gegen Kurschus“ – das wäre auch für das Bild der Kirche verheerend gewesen.
Wenn aus der Salami eine Dauerwurst wird
Denn am Ende geht es auch darum: Wie wird Kirche wahrgenommen? Schon heute denken viele Menschen beim Thema Kirche nicht mehr an Glaube, Liebe, Hoffnung. Sondern an sexuellen Missbrauch. Und natürlich ist das ein riesiges Problem, das nicht kleingeredet werden darf.
Die Kirchen haben aber auch ihren Anteil daran, wie sehr sie in der Öffentlichkeit damit in Verbindung gebracht werden. Ein professioneller, empathischer, transparenter und konsequenter Umgang mit Missbrauch ist Anfang des 21. Jahrhunderts der Lackmustest für die evangelische und katholische Kirche. Wer nicht bereit ist, persönliche Konsequenzen zu ziehen – siehe Erzbischof Woelki in Köln – nimmt in Kauf, dass aus der Salami eine Dauerwurst wird.
Annette Kurschus hat sich, nicht ohne Bitterkeit, dafür entschieden, ihre Ämter abzugeben, um diese und die Missbrauchsaufarbeitung nicht zu gefährden. Das ist bei aller Kritik ehrenwert.