Meinung

Wirbelwind der Weisheiten

Hier ist ein intellektueller Spürhund auf der Suche nach Weisheiten in allen Ecken der großen Weltliteratur, ebenso wie in Kinofilmen, Comics und natürlich in der Bibel unterwegs. Markus Spieker hat eine äußerst umfassende „Weisheitsschule“ verfasst.
Von Jörn Schumacher
Jäger-des-verlorenen-Verstandes

Haben Sie sich schon einmal mit einem Hochintelligenten mit Verdacht auf ADHS unterhalten? Falls nein, eventuell bekommt man einen Eindruck davon, wie das sein könnte, wenn man sich in den scheinbar endlosen Gedankenpalast des ARD-Journalisten und Historikers Markus Spieker traut. Auf beeindruckenden 630 Seiten spürt der intellektuelle Schnüffelhund dem Phänomen der Weisheit nach. „Jäger des verlorenen Verstandes“ nennt er seine „Weisheitsschule“, die nun erschienen ist. Wie Indiana Jones, nur ohne Fedora-Hut und Peitsche, habe er sich „auf die Jagd nach einem Schatz gemacht: dem Erfahrungsschatz der letzten Jahrtausende“, schreibt Spieker. Dabei habe sich der weitgereiste Journalist „in fernen Ländern herumgetrieben, vor allem aber in Bücher vertieft“. Herausgekommen ist eine kaum enden wollende Ansammlung von Äußerungen schlauer Menschen.

Franz Kafka, Karl Kraus, Seneca, Max Frisch, Robert Musil, Nietzsche, Adorno, Stefan Zweig, Plato, Aristoteles, Simone Weil, Christian Wolff, Parmenides, Sören Kierkegaard oder Winnie the Pooh, und natürlich Dostojewski. Wem die Vielfalt an unterschiedlichen Gedanken aus vielen Jahrhunderten nicht zu aufregend ist, für den ist dieses Buch wie ein funkelnder Swarovski-Stein, in dem scheinbar unendlich viele leuchtende Weisheiten, aus völlig unterschiedlichen Richtungen kommend, zu finden sind.

Der promovierte Historiker Spieker hat in Gießen und Los Angeles studiert, war jahrelang Korrespondent im ARD-Hauptstadtstudio und Leiter des ARD-Studios Südasien. Aus Afghanistan berichtete er von der Machtübernahme der Taliban. Spieker schrieb mehrere Bücher, etwa „Übermorgenland: Eine Weltvorhersage“, „Jesus: Eine Weltgeschichte“ und „Rock Me, Dostojewski“. Spieker ist aktuell Chefreporter beim MDR.

Jesus, Montaigne und Wahrheit

Der Leser von „Jäger des verlorenen Verstandes“ sollte klarkommen mit Gedankensprüngen (eigentlich eher ein Gedanken-„Ironman“) und am besten einige Wochen (besser Monate) Urlaub nehmen. Der Autor springt auf seiner Suche nach der Weisheit innerhalb von wenigen Absätzen von Thema zu Thema, vom menschlichen Gehirn zum Schauspieler Cary Grant, gleich darauf zu Stefan Zweig, mit Nebensatzabstechern zu Huckeberry Finn und Inspektor Columbo. Was man aber stets heraushört, ist eine Begeisterung für die (Suche nach der) Weisheit, eine Liebe zur Wahrheit, die der Autor in Gott gefunden hat. Diese Liebe hat ihm offenbar nie den Kopf verbrettert, sondern er ist bis zur Erschöpfung bereit, auch die kleinsten Weisheiten auch außerhalb christlicher Literatur aufzutreiben, und stecke sie auch unter einem Stein Popkultur oder in einem Fetzen Weltliteratur, in einem Comic oder bei den alten Griechen. Ob er dabei – an den Buchtitel anlehnend – seinen Verstand irgendwann verliert, ist Ansichtssache, der Leser sollte sich aber vielleicht mit etwas Vorsicht an den Wirbelwind der Weisheiten heranwagen.

Vielleicht bedeutet Weisheit gar nicht so sehr, möglichst viel Wissen anzuhäufen und anderen davon mitzuteilen? Vielleicht ist es einfach die Kunst, Wissen im richtigen Moment richtig anzuwenden? Spieker hat nicht zufällig eine Eule auf das Cover seines Buches gesetzt, schreibt er doch über dieses Tier, das seit jeher die Weisheit symbolisiert: „Eulen treten in der griechischen Mythologie als Begleiter von Athene, der Göttin der Weisheit, auf. Aber womit haben sie sich diesen Sidekick-Status verdient? Vermutlich mit ihren großen Augen, die auch bei schwachem Licht scharf sehen. Die Eule erkennt auch in der Nacht und im Trüben die Wirklichkeit. Sie erfüllt damit zumindest eine wichtige Voraussetzung für Weisheit: die Dinge zu sehen, wie sie sind.“

Und ist nicht die Weisheit verwandt mit der Wahrheit? Der gläubige Journalist beruft sich auch häufig auf die Bibel als einer der wichtigsten Quellen für Weisheit. So heißt es doch schon in einem Jesus-Wort: „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ (Johannes 8,32) Spieker: „Jesus, Montaigne und nahezu alle bedeutenden Denker gingen davon aus, dass es eine objektive Wahrheit gibt, der Menschen sich zumindest annähern können.“

„Dummheit ist ein gefährlicher Feind des Guten

Bei diesem Feuerwerk der weisen Sätze bleibt mit Sicherheit für jeden Leser etwas hängen. Eines der berühmtesten Bücher über die Weisheit stamme vom christlichen Philosoph Boethius (482–525), schreibt Spieker. Von ihm stammen diese drei Sentenzen: „Im Herzen des Weisen hat der Hass nichts verloren.“ „Suche das Glück nicht außerhalb von dir, sondern in dir.“ „Im Unglück erkennst du deine echten Freunde.“

Schön an Spiekers Buch ist, dass er auch die Nicht-Weisheit thematisiert. Denn auf seiner Jagd macht der Autor auch einen Abstecher ins „Tal der absichtlich Ahnungslosen“, zur Anti-Weisheit, zu den freiwillig Bornierten. Und wird damit erstaunlich aktuell. Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) habe besonders diejenigen angeklagt, die Hitler überhaupt erst den Weg bereiten konnten, die seinem Lügengespinst ins Netz gegangen waren. „Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit“, schrieb der Theologe, und: „Gegen die Dummheit sind wir wehrlos. Weder mit Protesten noch durch Gewalt lässt sich hier etwas ausrichten.“ Spieker fügt dem noch einen echten Spieker hinzu: „So wie die Weisheit auf den schmalen Trampelpfad zum Guten führt, so lotst die Dummheit auf den Boulevard, der im moralischen Bankrott endet.“

Dümmer wird der Leser dieser „Weisheitsschule“ gewiss nicht. Er lernt auf jeden Fall eine Menge neuer Autoren kennen und tut etwas gegen „geistige Verfettung“ (Spieker) – ob über Popmusik oder Quantenphysik, Informationsverarbeitung im Gehirn, ob Wirtschaftspsychologie, Hannah Arendt, Theodor Adorno, John Stuart Mill, Gustav Jung, John Lennon oder Oswald Chambers. Spieker versucht dabei auf sportliche Weise immer wieder, Verbindungen der zitierten Berühmtheiten zu sich selbst zu suchen. Der tschechische Kosmopolit Comenius (1592–1670) etwa ging zur selben Schule in Herborn wie er selbst, Matthias Claudius war wie Spieker Pfarrerssohn und Journalist, der Physiker Werner Heisenberg hatte wie er mit Heuschnupfen zu kämpfen. Viele noch lebende Persönlichkeiten hat Spieker sogar selbst getroffen, berichtet er. Ob der Leser einen roten Faden findet, liegt an ihm selbst, eben wie bei einem Gespräch mit einem hochintelligenten Menschen, in dem man sich vielleicht auch im sportlich-intellektuellen Geländegang überfordert fühlt.

Markus Spieker: „Jäger des verlorenen Verstandes. Eine Weisheitsschule“, Verlag: fontis – Brunnen Basel, 656 Seiten, 29,90 Euro, ISBN: 9783038482697

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